9. Februar 2020

SELBSTTEST

Materie mit Bewusstsein

 

Von Wolfgang W. Timmler


Bellmer: Künstliches Leben zu erschaffen ist ein uralter Traum der Menschheit. Vor über zweitausend Jahren konstruierte Heron von Alexandria eine Art Karussell mit tanzenden Frauenfiguren, doch erst die Erfindung des Federwerks im Mittelalter und die Entwicklung der Feinwerktechnik in der Barockzeit machten es dem Menschen möglich, ein Lebewesen in einer mechanisch bewegten Figur nachzuahmen, die mehr konnte, als sich im Kreise zu drehen. Geschickte Uhrmacher erschufen damals Vogelmaschinen, die fressen und verdauen konnten; sie erfanden Menschmaschinen, die Porträts zeichneten, Briefe schrieben und Musik machten. Sogar Schach spielen konnte eine solche Menschmaschine. Wie sich später aber herausstellte, war sie das Werk eines Betrügers, der von sich auch behauptete, die erste Sprechmaschine der Welt erfunden zu haben. Als Spielzeug waren alle diese mechanischen Wunderwerke hübsch anzusehen und sie machten auch großen Eindruck auf Höflinge und Fürsten, aber als Maschinen waren sie vollkommen nutzlos und überflüssig, denn sie unterstützten weder den Menschen noch andere Maschinen. Seitdem ließ der Gedanke an eine Maschine als Gehilfe des Menschen die Erfinder jedoch nicht mehr ruhen, und so leben wir heute in einer Welt, in der immer mehr menschliche Tätigkeiten von Maschinen erledigt werden und die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine immer mehr verschwimmen, und es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis den Maschinen auch Rechte eingeräumt werden wie den Menschen. Mit dieser Frage hat sich auch unser heutiger Gast beschäftigt. Ich begrüße ganz herzlich bei mir im Studio den Philosophen Filipp Kadik. Vielen Dank, dass Sie sich heute etwas Zeit für uns genommen haben.

Kadik: Das ist doch selbstverständlich.

Bellmer: Viele unserer Zuschauer wird es vielleicht erstaunen, wenn ich ihnen verrate, dass Sie selbst ein Androide sind und dass Sie diese Frage sozusagen persönlich betrifft ---

Kadik: Das tut sie nicht. Doch bevor wir diese Frage weiter erörtern, würde ich gern etwas von Ihnen wissen, Herr Bellmer.

Bellmer: Bitte?

Kadik: Sie sagen einfach so, als ob das keiner weiteren Erläuterung bedürfe, dass ich ein Androide sei. Selbstverständlich weiß ich, dass ich nicht nur der bin, der ich gern sein möchte, sondern auch der, für den mich die anderen halten, aber nehmen wir einmal an, Sie sitzen jemandem gegenüber, von dem Sie wissen, dass seine Eltern menschliche Wesen sind, für den aber Menschlichkeit nur ein Fremdwort ist, weil er, sagen wir mal, ein Massenmörder ist, würden Sie über den auch sagen, wir wissen ja, dass Sie ein menschliches Wesen sind? Ich frage das deshalb, weil ich mich schon einige Zeit mit der Frage beschäftige: Was ist das genau, ein Androide?


BELLMER RUCKT MIT DEM KOPF.


Bellmer: Die Nachbildung eines Menschen in einer Maschine.

Kadik: Das sagen die Ingenieure. Diese menschlichen Wesen behaupten wie die Nazis, was du bist, kannst du dir nicht aussuchen, denn es gibt Kriterien, die sind von dir unabhängig und die bestimmen, wer du bist und was du bist. Ich frage also in der Hoffnung, dass Sie mir eine bessere Antwort geben können, was ist das genau – ein Androide? Ich weiß es, ehrlich gesagt, nämlich nicht.

Bellmer: Also, ich lasse mich jetzt nicht von Ihnen in die Nazi-Ecke stellen!

Kadik: Nein, das wollte ich ganz bestimmt nicht, aber wenn sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandelt, was geschieht dann mit der Raupe?


BELLMER RUCKT MIT DEM KOPF.


Kadik: Ganz einfach, Herr Bellmer, sie stirbt.

Bellmer: Ich dachte nur, man müsste es erwähnen.

Kadik: Ja, aber warum nur! Diese Selbstverständlichkeit, mit der ein für alle Mal festzustehen scheint, dass ich ein Androide bin, fordert mich immer wieder zum Widerspruch heraus, weil ich gern ein Mitspracherecht haben möchte. Dass ich von Ingenieuren geschaffen wurde ---


BELLMER RUCKT MIT DEM KOPF.


Kadik: Dass ich offensichtlich von besseren Ingenieuren geschaffen worden bin als Sie, Herr Bellmer, ist ganz unzweifelhaft, aber wo bleibt da mein Mitspracherecht? Niemand fragt mich, ob ich ein Androide sein will oder nicht. Es wird einfach über meinen Kopf hinweg verfügt. Und das ärgert mich. Ich würde es mir nämlich ganz gern selbst aussuchen, wer ich bin.


WÄHREND BELLMER NERVÖS MIT DEM KOPF HIN- UND HERRUCKT, VOLLFÜHRT KADIK EINEN SELBSTTEST, BEI DEM ER DEN KOPF UND DEN OBERKÖRPER RUCKARTIG NACH ALLEN SEITEN DREHT UND BEUGT UND DIE SCHULTERN ABWECHSELND HEBT UND SENKT, WOBEI SEINE GELENKE NACH JEDER DREHUNG EINRASTEN. WIE BELLMER SCHEINT AUCH KADIK AUS MASSIVEM STAHL MIT NUR WENIGEN GELENKEN GEBAUT ZU SEIN. ZWISCHEN BEIDEN IST EIN STUMMES KRÄFTEMESSEN IM GANGE, DAS SCHLIESSLICH UNENTSCHIEDEN AUSGEHT. ERSCHÖPFT SINKEN BEIDE AUF IHREN STUDIOSESSELN ZUSAMMEN WIE UNGESPIELTE MARIONETTEN.