9. Februar 2020

dizayn



Die Transformationen im sowjetischen Design seit der russischen Revolution sind stets bedeutende Abbilder eines viel größeren Narrativs. Von harten, neuen, dynamischen Ansätzen der 20er Jahre über ein gemäßigtes Déco bis zu Bombast-Ornamentik in ungeheuren, fast militärisch anmutenden Maßstäben geht die Reise zu interessanten 70ies-Verwehungen, um dann in einer „alles auf einmal“ letzten Phase in den 80er Jahren zu vergehen. Das mächtige Buch „Soviet Design From Constructivism to Modernism. 1920-1980“ geht den Verwerfungen und Ergebnisstraßen nach. In Abbildungen und Aufsätzen zu den Pionieren der jeweiligen Felder werden Architektur, Innenarchitektur und Objektkunst überprüft, in Reihe gestellt. Die Dynamiken der Transformationen erschließen sich einem sofort. Besonders die Architekturwendungen sind interessant. Von Melnikovs kompromisslos groben Riesenskulpturen, Tatlins Flugmaschinen und Entwürfen zu einer „Fliegenden Stadt“, den wunderbar reproduzierten Zeichnungen der vielen Wettbewerbsbeiträge wie zum PRAWDA-Gebäude oder die Erzeugnisse der WChUTEMAS geht eine initiale Schockwirkung aus. Nur dass es nicht mehr die Malewitsch-Radikalität von 1922 ist, die kurz darauf schon alles bis dato etablierte wieder beiseiteschiebt, sondern dann die Metro-Entwürfe, die Theater und Unis der 30er bis 50er Jahre, die (Verzeihung!) den „ganzen Käse“ der solcherart fortgewischten Zarenkunst vor der Revolution wie die verkarikierte „From Russia with Love“-Sahnetorte im Handstreich wieder reinpacken in Gebäude, Ecken, Ornamente, Möbel usw. Als hätte es eben gar keine Revolution gegeben. Das Gestalt-Abbild der sowjetischen Geschichte, kann man durchaus sagen.



Das Buch ist ein große Ideenkiste. Die Reproduktionen sind häufig sehr gelungen. Besonders in weitgehend übergangenen oder abwegigen Objekten, wie dem „Table on Rifle Legs“ der Gewehrfabrik Tula und anderen Kuriosa, scheinbar unendlich vielen Variationen von omnidirektional klappbaren MuFuTi zeigen sich fast untergrundhafte Gegenbewegungen. Bemerkenswerter Aspekt ist, dass die Innenarchitektur als Ensemble-Intérieurs praktisch unsichtbar geblieben ist. Besonders das Möbeldesign, so machen die HerausgeberInnen fest, wurde nie eine größere öffentliche Resonanz teilhaftig oder einer Revision unterzogen. Hier sind die wenigsten Dynamiken spürbar, eine funktionale Gradlinigkeit zieht sich von den 20ern bis in die 80er ohne größere Ausschläge. So kommt es nicht zum Einbruch der Neo-Klassik in die elegant sparsamen, tatsächlich wenig Kunststoff-affinen Räumlichkeiten, sondern stattdessen sogar zu einer recht lustigen eigenen Variante von Bar-Interiors der 70er, die definitiv jeden Amerikanismus vermeiden, keine Fuzz-Box oder Bubbles irgendwo, und trotzdem auf bizarr unterkühlte Weise ebenfalls abgefahren-spacige Momente in den Mittelpunkt der Kompositionen stellen.

Jonis Hartmann



Soviet Design. Scheidegger Spieß. Zürich 2020