8. Februar 2004

It’s Only Rock`n´Roll

KISS – Symphony The DVD

Ausgerechnet KISS – jene Ikone kommerzialisierten US-Rock`n´Rolls! Der geneigte Leser wird vor Grauen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Was hat die neue DVD der Band eigentlich auf textem.de zu suchen? Ganz einfach, sie macht wider Erwarten Spaß...

 

Smells Like Teen Spirit

Grell geschminkte Gesichter, martialisches Auftreten und jede Menge pyrotechnische Effekte prägen das Bild einer der erfolgreichsten Rock`n´Roll-Bands der 70er Jahre. KISS waren schockierend, vulgär und laut – trivialer Glam-Rock für die breite Masse. Wer das nicht mochte, hielt sich an Queen, die in ihren Batikkostümen zwar wesentlich alberner aussahen, dafür aber auch wesentlich filigraner waren. Oder lieber gleich an David Bowie, der sich alsbald von seinem eigenen glamourösen Image verabschiedete, um als stylischer „Thin White Duke“ Trends und Hypes seinen Stempel aufzudrücken...

 

Trivial oder nicht: Man würde einer Band wie KISS nicht gerecht, reduzierte man ihre musikalische Bedeutung auf die einer reinen Show-Band ohne künstlerische Substanz. Längst zählen Alben wie „Alive!“ oder „Destroyer“ zu den wichtigsten Alben der Rock-Geschichte – outen sich zahllose Rockstars als KISS-Fans. Kein Wunder, bietet das Oeuvre der Band doch jede Menge Klassiker. Nicht zu unterschätzen ihr Einfluss auf das Merchandising der modernen Neuzeit: Wann immer wir uns das T-Shirt unserer Lieblings-Band überstreifen, ihr Plakat über unser Kopfkissen hängen oder uns mit ihrem Konterfei den Arsch abwischen – die vier geschminkten Heroen hatten diese Vermarktungsidee unter Garantie schon Jahre zuvor. Haben sie die Bedeutung der einträglichen Geldquelle „Jugendkultur“ doch früher erkannt als jeder andere vor und wahrscheinlich nach ihnen...

 

2004, rund 80 Millionen verkaufte Tonträger später, gibt es die viel geschmähte, von ihren Fans nach wie vor heiß verehrte Band noch immer: Nach einer (vom Deutschen Publikum weitgehend unbemerkt stattfindenden) ungeschminkten Phase, unzähligen personellen Querelen und einer Reihe kommerzieller Flops erfreuen KISS die Millionen zählende „KISS Army“ seit 1996 mit einer Reunion im original Line-up. Und das gleich auf zig Abschiedstourneen und Alben. Kein Wunder, lassen sich Bier, Puppen und Gesellschaftsspiele – und nicht zuletzt Kondome, Räucherstäbchen und Erdmöbel (!) – mit dem KISS-Logo noch besser verkaufen als jemals zuvor. Und wer wollte angesichts Millionen-Dollar-Beträge schon ans Aufhören denken?

 

It’s Only Rock`n´Roll

Ach ja, um Musik geht es ganz nebenbei auch noch. Aber, ist das überhaupt von Interesse? Seit gut 10 Jahren bietet die Band wenig Neues. KISS wären eben nicht KISS, würden sie ihren Back-Katalog nicht auf unzähligen Best-of-Alben bis zum Erbrechen ausbeuten. Kommerz as Kommerz can – ein Schelm, der Böses dabei denkt… So verwundert es auch nicht, dass pünktlich zum 30-jährigen Bühnenjubiläum eine neue DVD in den Läden steht: „KISS – Symphony The DVD“ zeigt die Band bei ihrem Jubiläumskonzert im Telstra Dome/Melbourne, aufgenommen am 28. Februar 2003.

 

Nichts ungewöhnliches, wäre da nicht das 60-köpfige Melbourne Symphony Orchestra unter der Leitung David Campbells, das KISS für diesen speziellen Event in ein klassisches Gewand hüllt. Eine Idee, so neu wie Deep Purples´ „Concerto For Group And Orchestra“. Und dennoch lebendiger und authentischer als der orchestrale Ausflug Metallicas vor einigen Jahren – von den ersten symphonischen Gehversuchen der deutschen Mützenband schlechthin, den Scorpions, ganz zu schweigen... Denn: Ihren namhaften Kollegen zum Trotz versuchen KISS erst gar nicht, anders zu klingen als sie selbst.

 

So, oder gerade deshalb gestaltet sich das Wiedersehen mit der Band zu einem durchaus erfrischenden Erlebnis: Sänger/Gitarrist Paul Stanley (richtig: der mit dem Stern) ist bestens bei Stimme, Bassist Gene Simmons präsentiert sich (nebst überlanger Zunge) in gewohnt diabolischer Form und Drummer Peter Criss kommt ohne die elektronischen Hilfsmittel der letzten Jahre aus. Einzig den (erneuten) Abgang des stets besoffenen Ace Frehley gibt es zu vermelden – was aber nicht weiter stört. Hat er doch für jemanden Platz gemacht, der `Space-Ace´ Solis besser spielt als er selbst: Gitarrist Tommy Thayer lässt das abgewrackte Rock`n´Roll-Urgestein einfach vergessen... Und so darf man sich auf einen unbeschwerten, rund 100-Minütigen Konzertabend im heimischen Pantoffelkino freuen, der es in sich hat.

 

Sex & Drugs & Tablewater

„KISS – Symphony The DVD“ bietet auf zwei Silberlingen ein kraftvolles Rockset, eine Unplugged-Session mit kleiner Streicher-Besetzung und den eigentlichen Höhepunkt des Abends: das Grande Finale mit großem (und selbstredend geschminktem) Orchester. Dabei fahren KISS von „Deuce“ über „Detroit Rock City” bis hin zu dem von einem Kinderchor begleiteten „Great Expectations“ alles auf, was sie an Kitsch und Bombast zu bieten haben. Einzig auf den Mega-Hit „I Was Made For Lovin´ You“ hätte man hier gern verzichtet. Und sich stattdessen auf Tracks völlig unterbewerteter Alben wie „Carnival Of Souls“ oder „Music From The Elder“ gefreut. Ein Wehmutstropfen, der den guten Gesamteindruck jedoch nur gering zu schmälern vermag. Paul Stanley hatte im Vorfeld einen symphonischen Urknall versprochen – und genau den liefern KISS in diesem einzigartigen Moment.

 

Auch die rund einstündige Dokumentation des Spektakels lässt kaum Wünsche offen. Kann man hier schließlich einen ungeschminkten Blick auf die „Hottest Band In The World“ werfen – von den monatelangen Vorbereitungen zu „KISS – Symphony“ bis hin zu den Proben mit Dirigent und Musikern. Überraschend dabei nicht nur die ungeheure Professionalität und Spielfreude der Band – sondern auch ihre Verunsicherung, ob der eigenen Gigantomanie. Und die Erkenntnis, dass Musiker jenseits der 50 schon mal zum Haarteil greifen (dürfen), wenn „Rock`n´Roll All Night“ und „Party Every Day“ danach verlangen…

 

Apropos „Musiker jenseits der 50“: Heute Abend sah ich zum ersten Mal David Bowie im Deutschen Werbefernsehen. Und griff – nach Überwindung der ersten Schrecksekunde und einem großen Schluck französischen Mineralwassers – zu meinem KISS-Klopapier, um erst mal in aller Ruhe... Aber lassen wir das! „KISS – Symphony The DVD“ ist jeden einzelnen Cent wert und – wenn schon Ausverkauf, dann bitte richtig – für den Gegenwert von ca. 80 läppischen Vittel-Pfandflaschen käuflich zu erwerben.

 

Sven Bussian

 

 

 

KISS – Alive!

KISS – Destroyer

KISS – Rock`n´Roll Over

KISS – Love Gun

KISS – Alive II

KISS – Paul Stanley

KISS – Music From The Elder

KISS – Revenge

KISS – Carnival Of Souls

KISS – MTV Unplugged