S T O T T E R F I S C H
Von Wolfgang W. Timmler
BIS AUF ZWEI SESSEL UND EINEN KONZERTLAUTSPRECHER IST DIE BÜHNE LEERGERÄUMT. IN EINEM DER SESSEL SITZT DER 1. ZUHÖRER. ER HAT EINEN KOPFHÖRER AUF UND HÄLT EINE PROGRAMMZEITSCHRIFT IN DEN HÄNDEN. DER 2. ZUHÖRER STEHT. AUF DEM ANDEREN SESSEL LIEGT EIN KOPFHÖRER.
1. Zuhörer: Wie sieht's aus? Leistest du mir heute abend Gesellschaft?
2. Zuhörer: Das kommt ganz darauf an, was es im Radio gibt.
1. Zuhörer: Ein Hörspiel.
2. Zuhörer: Eine Wiederholung?
1. Zuhörer: Nein, eine Direktübertragung.
2. Zuhörer: Aus dem Theater?
1. Zuhörer: Nein, aus dem Studio.
2. Zuhörer: Dann ist es bestimmt etwas Experimentelles, das kein Mensch versteht.
1. Zuhörer: Im Programm steht Märchen.
2. Zuhörer: Du liebe Güte! Sind wir denn kleine Kinder? Uns abends so etwas zuzumuten! Das kann ja heiter werden. Wie heißt es?
1. Zuhörer: Stotterfisch.
2. Zuhörer: Sagt mir nichts.
1. Zuhörer: Ich glaube, das ist ein japanisches Märchen.
2. Zuhörer: Der Titel klingt nicht gerade japanisch, finde ich.
1. Zuhörer: Seit wann kennst du dich mit japanischen Märchen aus?
2. Zuhörer: Stotersaki Fischima. So heißt das Märchen auf Japanisch.
1. Zuhörer: Witzbold.
2. Zuhörer: Weißt du, um was es geht?
1. Zuhörer: Nein. Ich bin genauso gespannt wie du.
2. Zuhörer: Im Programm steht nichts?
DER 1. ZUHÖRER SIEHT IN DER PROGRAMMZEITSCHRIFT NACH.
1. Zuhörer: Nein, keine Silbe.
2. Zuhörer: Du willst dir das Märchen wirklich antun?
1. Zuhörer: Warum nicht?
2. Zuhörer: Für Märchen sind wir eigentlich zu alt, finde ich.
1. Zuhörer: Ich habe schon Rundfunkgebühren dafür bezahlt.
2. Zuhörer: Das ist ein Argument.
1. Zuhörer: Heißt das, du bleibst?
2. Zuhörer: Ja.
1. Zuhörer: Zu zweit macht Zuhören mehr Spaß, glaub' mir.
2. Zuhörer: Das wird sich zeigen. Wer spielt mit?
1. Zuhörer: Ein Fisch.
2. Zuhörer: Wie?
1. Zuhörer: So steht es im Programm. Mitwirkende: Ein Fisch.
2. Zuhörer: Du veralberst mich?
1. Zuhörer: Nein.
2. Zuhörer: Ein Fisch im Radio ist doch schwurbeliger Schwachsinn.
1. Zuhörer: Eben nicht, wenn es ein Märchen ist.
DER 2. ZUHÖRER SETZT DEN KOPFHÖRER AUF UND NIMMT PLATZ.
2. Zuhörer: Das stimmt auch wieder.
1. Zuhörer: Pst! Es fängt an.
MUSIK.
2. Zuhörer: Du liebe Güte! Der Fisch will nicht auftreten. Er denkt, alle würden ihn auslachen, weil er stottert, und nun weigert er sich, ins Mikrophon zu sprechen.
1. Zuhörer: Alle Achtung! Den Fisch auf die Weise nicht zu Wort kommen zu lassen, ist eigentlich gar kein schlechter Einfall, finde ich.
2. Zuhörer: Jetzt bin ich aber völlig platt! Der Regisseur streitet sich mit dem Musiker. Unglaublich! Er verlangt mehr Temperament.
1. Zuhörer: Temperament?
2. Zuhörer: Du liebe Güte! Warum macht der Regisseur die Musik nicht selber? Temperament hat er ja genug.
1. Zuhörer: Sogar mehr als genug. Jetzt prügeln sich die beiden auch noch!
2. Zuhörer: Ein solches Durcheinander habe ich noch nie erlebt.
1. Zuhörer: Der Musiker schlägt sich wacker, aber der Regisseur ist auch nicht ohne. Autsch! Der Schlag hat gesessen! Der Musiker ist zu Boden gegangen, zehn, neun, acht, sieben, nein, so was! Das ist ein Ding! Der Musiker gewinnt! Es ist nicht zu fassen! Der Musiker gewinnt, und der Regisseur verläßt das Studio. Das gehört bestimmt nicht zum Märchen. Darauf verwette ich meine Rundfunkgebühren.
2. Zuhörer: Wie kommt es dann ins Hörspiel?
1. Zuhörer: Ich tippe mal auf menschliches Versagen.
ÜBER LAUTSPRECHER WIRD DER DIALOG DER BEIDEN ZUHÖRER WIEDERHOLT.
2. Zuhörer: Ein Fisch im Radio ist doch schwurbeliger Schwachsinn.
1. Zuhörer: Eben nicht, wenn es ein Märchen ist!
2. Zuhörer: Das stimmt auch wieder.
1. Zuhörer: Pst! Es fängt an.
MUSIK.
2. Zuhörer: Was soll das nun wieder? Wieso sind wir beide jetzt im Radio zu hören?
1. Zuhörer: Ich wundere mich über gar nichts mehr.
2. Zuhörer: Seit wann gehören wir denn zum Hörspiel?
1. Zuhörer: Ich glaube, ich werde gleich verrückt.
MUSIK.
2. Zuhörer: Jetzt meldet sich auch noch der Autor zu Wort.
1. Zuhörer: Bestimmt wird er uns alles gleich erklären.
2. Zuhörer: Oder noch mehr schwurbeligen Schwachsinn zum besten geben.
MUSIK.
2. Zuhörer: Du liebe Güte! Für wen hält sich dieser unverschämte Kerl eigentlich?
1. Zuhörer: Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind.
2. Zuhörer: Hast du das gehört? Er hält uns für zwei Blödiane! Ich hätte wirklich große Lust, ihm das Lästermaul zu stopfen!
1. Zuhörer: Ich schließe mich an!
PAUSE.
2. Zuhörer: Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?
1. Zuhörer: Wie wär's mit Kino?
2. Zuhörer: Was läuft gerade?
1. Zuhörer: Keine Ahnung.
2. Zuhörer: Das hört sich vielversprechend an.
1. Zuhörer: Witzbold!
MUSIK (KINOGONG).
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/*/ Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg (Kreuzberg), Blücherplatz, Karneval-der-Kulturen, 29.05.2004: Verhülltes Logo der Telekom auf einem Telefonhäuschen (Bilddatei: TIMMLER_WTX4540.JPG).