22. Dezember 2019

Das Eis-Schloss

 

Ein norwegischer Klassiker, Das „Eis-Schloss“ von Tarjei Vesaas, erscheint zum ersten Mal auf Deutsch im Guggolz Verlag, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. In Norwegen bereits in den frühen sechziger Jahren veröffentlicht, handelt es sich im Prinzip um ein Kultbuch, dessen Besonderheit darin liegt, das Menschliche, um das es geht und das der Ausgangspunkt der Erzählung ist, fast völlig offen zu lassen. Die beiden Mädchen Unn und Siss geraten nur andeutungsweise, sehen sich auch gefühlt nur einmal erzähltechnisch, danach ist alles Schweigen und Natur. Die Schilderung jener Natur, ein Eiswinter, aus Gefrorenheit, Stapfen, aus Baumstrichen und einem gewaltigen zu einem Eis-Schloss gefrorenen Wasserfall, nimmt den Hauptraum des Romans ein. Die nicht eingelöste Freundschaft, gegen das „Ersticken am Dorf“, bleibt ein seltsames Versprechen wie am Rand der Gemeinschaft, noch vor jeder Art häuslicher Wärme. Die beiden Mädchen gehen, unabsichtlich oder vielleicht doch absichtlich, getrennte wie erweckte Wege, Unn, die seelisch versehrte, geht direkt ins Eis-Schloss hinein, um sich dort in einer expressionistischen Lichterfahrung hinzulegen, um nie wieder rauszukommen. Siss vermeint, sie bei der allgemeinen Suche nach der Verlorengegangenen, kurz ebendort zu erspüren, vor dem brechenden Schloss, aber mehr nicht.

Unns Erfahrungen hinter dem Wasserfall, der eigentümliche Blechvogel am Himmel, sind unkonventionell erzählt, wie gegen den eigentlichen „frostigen“ Strom aus krachendem Eis der Handlung bis dorthin. Das gewollte Versacken der ganzen Situation und der schließliche Abbruch des Erzählprojekts macht Vesaas’ Buch zu einem der Lyrik nahe stehenden Verfahren. Tatsächlich ist Vesaas praktizierender Dichter gewesen und hat mit seinem anhaltenden Erfolg genau eine bestimmte Verquickungsmentalität der Mensch-Natur Aufstellung einer norwegischen Kondition getroffen. Man scheint sich zu erkennen in all dem Nicht-nötig-zu-sprechen stattdessen mühsam Gegen-das-Frieren-leben.

Insgesamt ist das Buch überaus anschaulich und enorm dicht, obwohl es (gewollt) nicht gerade komplex oder gar bis in die Tiefe vordringend auftritt. Es scheint vielmehr, dass Vesaas sich dafür entscheidet, der Natur den Vortritt zu lassen, erzählerisch wie sprachlich. Dabei gibt es durchaus einen unzeitgenössischen Zug im Ganzen, der angesichts des Alters des Textes aber nicht verwundert. Durch die tonal passende Übersetzung Schmidt-Henkels bleibt „Das Eis-Schloss“ zum Großteil mutig offen.

Jonis Hartmann

 

Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Guggolz, Berlin 2019