WEIHNACHTSGESCHICHTE
Von Wolfgang W. Timmler
Ich war ein bisschen größer als er. Er ging mir bis hier. Auf dem Hochzeitsbild sieht man das nicht. Da sitze ich, und er steht. Es gibt kein Bild, auf dem wir stehen. Es gibt überhaupt kein Bild, kein einziges Bild, auf dem wir zusammen sind. Nur das Hochzeitsbild eben. Das ist das einzige. Und das hat er mir zerrissen. Ich habe mehr in ihm gesucht, als er war, muss ich heute sagen. Wenn ich einen Halt oder ein richtiges Elternhaus gehabt hätte, wäre manches anders gekommen, aber ich habe halt niemand gehabt. Die Mutter war gestorben, und zum Vater konnte ich nicht gehen. Der kümmerte sich nicht um einen. Eine Freundin, mit der ich mich aussprechen konnte, hatte ich nicht. Ich war jung und dumm und habe mir vieles gefallen lassen.
Wenn man nur geschlagen wird wegen nichts und wieder nichts und jedes zweite Wort ist, du Hure, du bist überhaupt nichts wert, in der Zeit habe ich mir das am Tag hundert Mal anhören müssen, dann vergräbt man sich in ein tiefes Loch.
Ich bin nur gut zum Kochen und zum Waschen gewesen. Oft habe ich nicht einen Cent Geld gehabt, um etwas zum Essen kaufen zu können. Dann habe ich Suppe gekocht. Erbswurst ist das Billigste gewesen und hat uns zwei Tage gereicht. Davon habe ich zwei Tage Suppe kochen können. Ich habe manchmal wirklich nicht gewusst, von was wir leben sollen, und dann hat er mir die Suppe samt dem Teller nachgeschmissen. Ich habe so die Schnauze voll gehabt von ihm.
Trotzdem habe ich das erste Mal die Scheidung wieder zurückgenommen. Er hat mir im Gefängnis vorgejammert, er bessert sich, er wird anders, er sorgt für mich und, und, und – und ich dumme Kuh glaube ihm und nehme die Scheidung zurück. Dann ist er aus dem Gefängnis vierzehn Tage früher entlassen worden. Ich hätte mit ihm ins Bett sollen. Das konnte ich nicht. Nicht um alles in der Welt. Und wenn er mich totgeschlagen hätte, ich hätte es nicht gekonnt.
Als ich die Scheidung zurücknahm, hat der Rechtsanwalt noch zu mir gesagt: "Wenn Ihr Mann aus dem Gefängnis wieder raus ist, dauert es keine vierzehn Tage und Sie sind wieder bei mir, um die Scheidung einzureichen." Und genauso ist es gekommen. Er war nicht einmal vierzehn Tage draußen und hat mich verprügelt, weil ich nicht mit ihm ins Bett bin. Er hat mich dermaßen verprügelt. Ich weiß gar nicht mehr, wie es dann weitergegangen ist.
Jedenfalls bin ich gleich zum Rechtsanwalt. Er hat die Wohnung verlassen müssen. In der Zeit hat meine Schwester bei mir gewohnt, und auf die ist er mit dem Messer los, als ich mich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte. Das stößt mir alles auf, wenn ich mich daran erinnere. Wie der mit einem umgesprungen ist, als sei man der letzte Dreck.
Ich bin putzen gegangen, und er hat das ganze Geld versoffen, und wenn er heimkam, ist wieder der Teufel los gewesen: "Ta gueule!" Wenn er auf Deutsch nicht mehr weiterwusste, dann hat er einen auf Französisch beschimpft. "Ta gueule!" Er ist nur bei schlechtem Wetter zur Arbeit gegangen. Bei schönem Wetter hat er nicht gearbeitet, wenn er überhaupt einmal gearbeitet hat.
Als ich ihn kennengelernt habe, war er noch nicht lange von der Legion weg. Er hat dann als Wachmann bei den Franzosen gearbeitet. Damals war noch der Philipp dabei, der Raimund und der, wie hieß jetzt gleich der andere? Der ist auch tot. Ich komme jetzt nicht auf den Namen. Zu dem sagten sie Siebzehner. Das war so ein Wichtigtuer. Den habe ich überhaupt nicht ausstehen können. Die Vier haben immer zusammen Wache gehabt. Wir Mädchen haben uns auch gekannt. Wir waren eine Clique und die Wachmänner auch. So haben wir uns kennengelernt. Mir hat er leidgetan. Er war mit denen zusammen und irgendwie trotzdem allein. So hat die Geschichte angefangen.
Er war sehr höflich. Das war er, bis er mich gehabt hat. Danach war der Wurm drin. Als ich das Kind tot auf die Welt brachte, hat er gedroht: "Wenn du mir noch einmal ein totes Kind auf die Welt bringst, dann schlage ich dich tot!" Das hätte er auch fast geschafft, aber vorher bin ich gegangen. Ich dachte, er wird anders, wenn ein Kind da ist.
Wenn er mich irgendwo gesehen hat mit einem Mann, dann war ich mit dem schon im Bett. Das war gleich, wer das gewesen ist, selbst wenn es sein bester Freund war. Nur einmal "Guten Tag" gesagt, und schon hatte ich ein Verhältnis mit dem. So dumm war er. Und dann hat er das Hochzeitsbild zerrissen. So viel war ich ihm wert, dass er es vor meinen Augen zerrissen hat. Das hat mir so wehgetan. Wie kann man ein Bild, das ja nur ein totes Ding ist, wie kann man das zerreißen?
Er hat immer behauptet, er sei intelligent und ich sei blöd. Wenn ich bei ihm geblieben wäre, wäre ich wirklich verblödet. Mit ihm war ich so richtig in der Gosse, und da wollte ich nicht bleiben. Ich habe vier Putzstellen gehabt in der Zeit. Ich bin arbeiten gegangen, damit er hat saufen können. Er ist daheim gehockt und hat gesoffen, und ich habe arbeiten können. Er hat auch auf Pump gesoffen. Er hat es anschreiben lassen, und ich habe es dann zahlen können. Wenn er pleite gewesen ist, hat er alles verkauft. Der hätte sogar den Suppentopf verkauft. Und einen Dummen hat er immer gefunden.
Er hat sich verstellen können, und er hat sich auch verstellt, aber als ich gemerkt habe, wie er in Wahrheit ist, wollte ich nicht mehr. Sonst hätte ich auch die Scheidung nicht eingereicht.
Ich habe schon öfters mit dem Gedanken gespielt, dass ich hinfahre und mir aus der Ferne angucke, wie er sich verändert hat und jetzt aussieht. Reizen tät’s mich. Auf der anderen Seite aber ist er es nicht wert. Er ist es wirklich nicht wert.
Ich habe damals einfach nicht mehr gemocht. Entweder vergräbt man sich in ein tiefes Loch, wo man sich selbst nicht mehr spürt, oder man macht einen glatten Schnitt. Wenn ich daran denke, dass die Scheidung sich, wie lange hat die sich hingezogen, zwei Jahre? Und der hat dem Rechtsanwalt mit Schlägen gedroht. Der hat jedem mit Schlägen gedroht. Und der hat aber auch zuschlagen können.
Wie der damals auf den Polizisten losgegangen ist – nein, ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Zu uns ging eine steile Holztreppe hoch. Die ist schon ein bisschen ausgelatscht gewesen. Unten sind die Polizisten gestanden und haben sich mit meiner Schwester unterhalten. Auf einmal kommt er die Treppe runtergeflogen. Der hat Socken angehabt und ist ausgerutscht. Auf den Knien ist der angekommen. Das Bild vergesse ich nie. Das war ein Spektakel! Meine Schwester wäre fast geplatzt vor Lachen. Nein, den Anblick vergesse ich nie. Und der hätte sich den Hals brechen können. Der hätte sich gottweißwas brechen können, und dann fängt er eine Schlägerei mit den Polizisten an, der Idiot!
Vor der Hochzeit ist das der liebste Mensch gewesen. Ich kann mich noch gut an unsere ersten Weihnachten erinnern. An Heiligabend habe ich ein Bäumchen geholt im Wald, wo er damals Wache geschoben hat. Das Bäumchen habe ich geschmückt. Diese Weihnachten vergesse ich nie. Ich habe ihm eine Kleinigkeit geschenkt und ein paar Weihnachtslieder gesungen. Und der hat geheult. Rotz und Wasser hat der geheult. "Jetzt habe ich so viele Jahre keinen Christbaum gesehen, und nun machst du mir die Freude." Mir ist die Freude aber ganz schnell vergangen. Vielleicht hätte ich ihm öfters etwas vorsingen oder ein Bäumchen schmücken sollen, vielleicht wäre es dann anders gekommen.