21. November 2019

Regretting motherhood

 

Der Titel und der Pressetext zum Stück »Anatomie eines Suizids« von Alice Birch, welches derzeit am Hamburger Schauspielhaus gespielt wird, ist irreführend, denn natürlich geht es um Depression und Selbstmord, aber vor allem geht es um Fragen, Herausforderungen, Zumutungen, Freiheits- und Unabhängigkeitsbedürfnisse von Frauen seit den 70er Jahren.

Drei Frauen aus drei Generationen spielen gleichzeitig als Mütter, Töchter, Enkeltöchter jeweils ihre, und das ist das Frappierende, in jeder Generation die immer gleichen Situationen durch: blöde Männer, idiotische Freunde, lächerliche Sehnsucht, läppische Wünsche – befeuert wird diese durch alle Generationen (von den 1970ern bis in die 2030er Jahre reicht die Zeitschiene) wirksame Zermürbung und Zermarterung von Selbsthass.

Ein Zustand, der, bevor man in Depression fällt, sich bekanntlich auch als eine hochgradig agile, zu enormen Kräften aufpeitschende toxische Leistungsorientiertheit mit verzweifeltem Anerkennungsdrang äußern kann. Da man (also Frau) weiß, wie unfähig man ist, und das weiß man schließlich schon immer, dann muss die »Leistung« einen retten. Wer in diesem Spiel nicht oder nicht mehr mitbieten kann, darf sich auch gleich umbringen.

Zu dieser Grundsituation kommt ein Umstand, den die Soziologin Orna Donath 2015 mit »Regretting motherhood« betitelte – Mütter, die es anhaltend bereuen, Mutter geworden zu sein, und die Rolle als Mutter negativ erleben.

Die Aufführung in Hamburg ist absolut gelungen. Eine filmische Hintergrundgeräuschbegleitung triggert andauernd den leisen Horror beim Publikum, knapp über der Wahrnemungsschwelle, sodass die Schauspielerinnen Raum gewinnen weil sie keine theatralischen, selbst geräuschvollen Ausbrüche darbieten müssen. Die drei großartigen Hauptdarstellerinnen Julia Wieninger, Gala Othero Winter und Sandra Gerling können ganz leise, mit wenigen Bewegungen, mit sparsamen Gesten die ganze riesige und dabei furchterregend banale Einsamkeit ihrer jeweiligen Situation zeigen.

Sehr gut ist außerdem, dass die drei Frauen während des gesamten Stücks immer auf der Bühne bleiben und bei Szenenwechseln stets von den anderen Nebenrollen, MitspielerInnen umgekleidet werden (auch wenn man sich vielleicht vier solcher Kleiderwechsel hätte sparen können). Damit wird deutlich, ohne dass das im Text vorkommen müsste, wie sehr man als einzelne, auch absolut einsame Person, dauernd doch in soziale Kontexte verstrickt ist, alle zuppeln an einem herum, Möbel kommen und gehen, Kleider kommen und gehen – es ist nicht wirklich von Interesse für die drei, es passiert eben. Die Teilnahmslosigkeit ist umfassend.

Sie können dennoch chorisch sprechen, denn ihre eigene Hoffnungslosigkeit ist auch die Hoffnungslosigkeit der anderen.

Unbedingt anschauen!

(Nora Sdun 2019)

 

»Anatomie eines Suizids« von Alice Birch, Schauspielhaus Hamburg

04/12/Mi 20.00 - 22:00

20/12/Fr 19.30 - 21:30

26/ 03/Do 20.00 - 22:00