DRESCHER
Von Wolfgang W. Timmler
Der Ball hatte die Linie nur kurz berührt und rollte ins Aus. Drescher krallte die Hände ins Netz. Die Wut über die verpasste Torchance drohte ihn zu ersticken, würgte ihn wie eine Schlange, die sich um seinen Hals gewickelt hatte. Hinter dem Netz lauerte Spinelli. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und schlenderte zum Pfosten. Er war spindeldürr, das Gesicht schmal, mit einer Nase, die nicht enden wollte. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er grinste, als er Drescher gegenüberstand. Beide kannten sich seit Jahren. Der Torwart lachte. Drescher hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt.
"War schwer, den nicht reinzukriegen. Brauchtest nur den Fuß hinzuhalten."
Drescher nickte und brütete stumm vor sich hin. In seinem Kopf kreiste eine Endlosschleife. Vorgestern hatte man ihm die verflixten Antragsformulare in den Briefkasten gesteckt, und er Trottel hatte alle ausgefüllt im guten Glauben, die Stasi würde die Akte Georg Drescher wirklich herausgeben. Einen halben Tag Urlaub hatte ihn der blöde Streich gekostet. In der Leihfirma wollten sie ihm erst keinen geben, aber als er sagte, dass seine Frau morgen Geburtstag habe und vielmals Danke sage im voraus, hatten sie ihm den Urlaub bewilligt. Am Morgen hatte er die Tochter zur Schule gebracht und der Frau einen Strauß Rosen gekauft. Als er in der Frankfurter Allee aus der U-Bahn stieg, kamen ihm Leute entgegen, die sagten, dass alles Betrug sei. Erst wollte er es nicht glauben, aber der Pförtner bestätigte ihm, dass die personenbezogenen Akten und Daten sowie die Personendossiers des in Auflösung befindlichen Ministeriums für Staatssicherheit den betreffenden Personen heute nicht ausgehändigt wurden.
"Das darf doch nicht wahr sein!"
"Heute gibt es auf jeden Fall keine."
"Das ist ein Ding! Junge, Junge. Dann hat sich jemand damit einen Scherz erlaubt?"
"Uns haben sie die Formulare in der Nacht heimlich ans Tor geklebt."
"Ich wette, das ist wieder so ein Trick von der SED."
"Nichts ist unmöglich."
"Irgendwann kriegen sie jeden mal dran. Nichts für ungut, und einen schönen Tag noch."
"Danke. Ihnen auch."
Auf dem Hof begegnete Drescher einer jungen Frau mit einem Kinderwagen. Sie lächelte, als sie den Blumenstrauß in seiner Hand sah. Drescher kam sich vor wie ein Vollidiot.
"Das Formular können sie vergessen, junge Frau. Die Stasi-Akten gibt es heute nicht."
"Die Formulare sehen aber ganz echt aus."
"Solche Dinger kann jeder drucken. Das ist nichts Amtliches."
Vor dem Tor standen drei junge Männer und rauchten. Drescher hielt sie für Studenten und bat um Feuer.
"Ich wollte gerade sagen, es wäre genau so, als würde die Mauer noch einmal fallen."
"Es wäre spannender."
"Auf jeden Fall."
"Na, alle Akten abgeholt?"
"Nein, aber ich habe gleich zwei Formulare gekriegt. Und ich wollte mir nur mal bestätigen lassen."
"Dass es ein Witz ist?"
"Dass es ein Witz ist. Ich habe es gleich als Witz aufgefasst. Und da ich heute frei habe, dachte ich, dass ich mal vorbeischaue und es mir bestätigen lasse."
"Obwohl wir alle dachten, dass es ein Witz ist, sind wir alle heute hier. Wenn das kein Witz ist."
"Sie sagen es."
"Aber wieso haben Sie zwei Formulare? In meinem Briefkasten lag nur eins."
"Ich habe auch nur eines gekriegt."
"Das habe ich mich auch schon gefragt, und ich habe mich auch gewundert, dass ich nach achtzehn Uhr noch eine Postwurfsendung bekomme."
"Dann ist das gestern Abend passiert? Ich dachte heute morgen."
"Ich war gestern Abend noch unterwegs zum Training, und um die Zeit waren auch die anderen unterwegs."
"Dann sind die Formulare gar nicht von der Post ausgetragen worden?"
"Nein. Es war nach sechs Uhr, als ich weggegangen bin. Aber wieso bekomme ich zwei Formulare. Das hat mich stutzig gemacht. Vielleicht habe ich zwei Akten?"
"Nichts ist unmöglich."
"Da haben sie recht."
Drescher war nicht mehr wählen gegangen, auch nicht, als sie mit der Order kamen: Warum willst du nicht wählen? Das ist doch für dich! Er wusste aber nicht, wen er wählen sollte. Es änderte sich sowieso nichts, und wer etwas ändern wollte, den sperrten sie ein. Nach der Wende hatte er die SPD gewählt. Er dachte, vielleicht wird es dadurch ein bisschen besser, aber als die meisten die D-Mark wählten, sagte er sich, dass es mit der SPD auch nicht viel anders gekommen wäre. Wie der eine hieß, so sah der andere aus, und am Ende waren de Maizière und Thierse bloß zwei Seiten derselben Medaille. Trotzdem war er nicht enttäuscht. Warum auch? Im Prinzip lebte er doch jetzt besser. Er hatte eine richtige Wohnung gefunden und endlich den Führerschein machen können. Zu DDR-Zeiten war er eine dreistellige Nummer auf der Warteliste, aber ein Auto hätte er sich nie leisten können. Wo sollte er als Maler das viele Geld hernehmen für einen Trabi? Nun konnte er hinfahren, wohin er wollte, wenn er das Geld dazu hatte. Viele hatten geglaubt, jetzt flögen einem die gebratenen Tauben in den Mund. Seine Frau war auch so. Als sie das erste Mal drüben waren, erst die Wollankstraße runter zum Postamt, wo es das Begrüßungsgeld gab, und dann schnurstracks zum Ku'damm, und wie die Frau das erste Mal die Geschäfte sah, hatte sie bloß noch gestaunt. So was kannte sie nun gar nicht. Sie war im Heim groß geworden, und dort gab es kein Westfernsehen. Sie kam sich vor wie im Schlaraffenland.
"Wart mal ab, Renate. Kiek mal auf die Preise."
"Mensch, ist das teuer hier, aber die Klamotten sind todschick."
"Wenn wir nach Spandau kommen, dann wird's ein bisschen billiger. Das ist nicht mehr so mitten in der Stadt."
"Ne, das kann nicht sein. Das kostet überall dasselbe Geld."
"Eben nicht, Renate!"
"Das ist für mich total ungewohnt, Georg. Ob ich mich jemals daran gewöhnen kann?"
Es dauerte lange, bis sie das begriffen hatte, aber so war der Mensch. Er stellte sich schwer um, wenn er anders erzogen war. Wer das alles nicht kannte, dem fiel es nicht leicht, damit umzugehen. Vor dem Mauerbau hatten seine Eltern den ersten Fernseher gekauft. Schwarzweiß. Ein einfaches Ding. Damals wurde man für Westfernsehen gucken noch angeschissen, bis Ultimo. Das war staatsfeindlich. Einmal kam sogar der Parteisekretär zu ihnen nach Hause. Westfernsehen gucken war Propaganda gegen den Staat. An die Szene erinnerte sich Drescher, als er kurz zur Anzeigetafel hochsah, und der Parteisekretär verschwand erst, als er den Pfiff hörte und Spinelli die Handschuhe auf den Boden schleuderte. Der Schiedsrichter hatte den Ball hinter der Linie gesehen. Drescher riss automatisch die Arme hoch und trabte los. Er fragte sich, ob Spinelli das Formular auch bekommen hatte. Er sollte ihm auf den Zahn fühlen, aber erst musste er ein richtiges Tor schießen.
Die Aufnahme stammt aus dem Jahre 2010 und zeigt die Bronzefigurengruppe "Karl Marx - Friedrich Engels" von Ludwig Engelhardt (1985/1986) und die Marmorreliefwand von Werner Stoetzer (1985/1986) vom Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte, als die Kunstwerke wegen eines U-Bahn-Neubaus vorübergehend an die Liebknecht-Brücke versetzt worden waren.