24. Oktober 2019

BEGRÜßUNGSGELD UND ZÄHLKARTE

Am 13. September 1989 landet um 13 Uhr 45 eine PanAm-Maschine aus Nürnberg mit DDR-Flüchtlingen aus Ungarn in West-Berlin. Die DDR-Flüchtlinge werden am Flugsteig 9/10 von Verwandten und Bekannten begrüßt. Ein junger Mann versucht, seine Tränen zu verbergen (Foto: W. Timmler).
Offen zum Westen ((c) 1989 Waldemar Mandzel, Bochum)/2/.
Am Morgen des 10. November 1989 fährt ein Trabant mit Ost-Berliner Kennzeichen Slalom durch die Sperranlagen des Grenzübergangs (Foto: W. Timmler).
Ein West-Berliner Schutzmann regelt den Verkehr an der Einmündung Liesenstraße, wo ein Schild auf die Grenze des Französischen Sektors hinweist (Foto: W. Timmler).
Ein Trabant mit Ost-Berliner Kennzeichen passiert den Grenzübergang Chausseestraße in Richtung Wedding und wird von Schaulustigen an der Straße und auf der hölzernen Aussichtsplattform begrüßt, während ein Polizist den Verkehr überwacht (Foto: W. Timmler).
Ein Wartburg mit Ost-Berliner Kennzeichen fährt über den Grenzübergang Chausseestraße zurück in den Ostteil der Stadt (Foto: W. Timmler).
Zeitungsmeldung über den gescheiterten Fluchtversuch am Grenzübergang Chausseestraße/3/.
Lageplan der Grundstücke an der ehemaligen Kontrollstelle Chausseestraße ((c) Landesarchiv Berlin 1988).
Die Aufnahme zeigt die Chaussee- und Liesenstraße am 17. September 2019 (Foto: W. Timmler).
Die Stele an der Chausseestraße Ecke Liesenstraße ist eine von über dreißig Stationen des sogenannten Mauerwegs entlang der ehemaligen Sektorengrenze; links hinter der Stele ist eine von Karla Sachses Kaninchenfiguren in die Fahrbahn eingelassen (Foto: W. Timmler).
Als geöffneter Raum lädt die Skulptur von Hildegard Leest auch zum Durchschreiten ein (Foto: W. Timmler).
Am Samstag, dem 11. November 1989, dient ein Mannschaftswagen als behelfsmäßige Meldestelle der Deutschen Volkspolizei, wo Ost-Berliner am neueröffneten Grenzübergang Bernauer Straße Ecke Schwedter Straße und Eberswalder Straße ein Ausreisevisum beantragen können; nur wenige Schritte davon entfernt steht ein uniformierter Agent der Paßkontrolleinheit mit "Bauchladen-Büro" und drückt einen Stempel in die Pässe beim Grenzübertritt (Foto: W. Timmler).
Die Zählkarte trägt den Einreisestempel des Grenzübergangs Chausseestraße. Der Ausreisestempel fehlt, weil der Autor über den völlig überlaufenen Grenzübergang am Brandenburger Tor am 25.12.1989 ausgereist ist, wo es so gut wie keine Kontrollen gab (Repro: W. Timmler).
Am 1. Weihnachtstag 1989 füllt ein West-Berliner am Grenzübergang Chausseestraße eine Zählkarte für die Einreise nach Ost-Berlin aus (Foto: W. Timmler).
Reisenden nach Ost-Berlin stehen alle Schranken offen (Foto: W. Timmler).
Ein Uniformierter überprüft die Visa von DDR-Bürgern, die mit dem Auto nach West-Berlin ausreisen wollen (Foto: W. Timmler).
An der Wöhlertstraße beginnt der Kontrollbereich des Grenzstelle (Foto: W. Timmler).
Bei der Ausreise nach West-Berlin hat sich gegen zehn Uhr morgens eine kurze Warteschlange gebildet (Foto: W. Timmler).
Auszahlungsvordruck der Berliner Bank ((c) 1989 Berliner Bank, Berlin).
Am Samstag, dem 11. November 1989, hat die Filiale der Berliner Bank in der Müllerstraße ausnahmsweise ihre Schalter geöffnet. Vor dem Eingang warten Antragsteller auf Begrüßungsgeld.
Vor dem Neubau des Rathauses Wedding hat sich ebenfalls eine Warteschlange gebildet. Die vielen Antragsteller auf Begrüßungsgeld können nur langsam zu den Auszahlungsstellen vorrücken.
Um die große Zahl von Anträgen auf Begrüßungsgeld zu bewältigen, hat das Rathaus Wedding auch am Sonntag, dem 19. November 1989, seine Türen geöffnet und dazu den Tagungssaal der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in einen behelfsmäßigen Kassenraum umgewandelt (Foto: W. Timmler).
Neunzehn zusätzliche Auszahlungsstellen sind im BVV-Saal eingerichtet worden (Foto: W. Timmler).
Ein Ehepaar erhält zweihundert D-Mark als Begrüßungsgeld (Foto: W. Timmler).
Mit ihrer Unterschrift versichern die Antragssteller, im Jahre 1989 noch kein Begrüßungsgeld erhalten zu haben (Foto: W. Timmler).
Ein Mädchen füllt für seine Mutter das Antragsformular aus (Foto: W. Timmler).

 

Von Wolfgang W. Timmler

 

In der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 öffnete die Ungarische Volksrepublik sämtliche Grenzübergänge zur Republik Österreich für ausreisewillige Urlauber aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Dazu setzte die ungarische Regierung das Abkommen mit dem sozialistischen deutschen Staat vom 20. Juni 1969 über den visafreien grenzüberschreitenden Verkehr zwischen beiden Ländern teilweise außer Kraft. Dadurch war es ostdeutschen Urlaubern in Ungarn jetzt möglich, in ein Land ihrer Wahl auszureisen, wenn sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Am 11. September machten sich über siebentausend DDR-Bürger auf den Weg und fuhren über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland (BRD); bis 13. September war ihre Zahl bereits auf elftausend angestiegen. Die Ost-Berliner Tageszeitung „Neues Deutschland“, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und halbamtlicher Staatsanzeiger der DDR, warf der Volksrepublik Ungarn daraufhin „Einmischung in innere Angelegenheiten, die Mißachtung nationaler Gesetze und Ordnungen anderer Staaten sowie die willkürliche Aufkündigung oder einseitige Außerkraftsetzung bindender Verträge und Vereinbarungen“ vor und sprach von einer Nacht- und Nebelaktion, mit der „eine größere Anzahl Bürger der DDR illegal“ in die BRD verbracht worden sei/1/. Die DDR-Flüchtlinge wurden auf die elf Bundesländer verteilt, davon sollten zwischen tausend und tausendfünfhundert nach Berlin kommen, was sich angesichts der rasch steigenden Flüchtlingszahlen jedoch als illusorisch erwies; bis Ende des Monats würde die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in diesem Jahr auf über neunzehntausendfünfhundert gestiegen sein. Am Abend des 12. September trafen die ersten fünfzig Ungarn-Flüchtlinge mit einer Linienmaschine am Flughafen Tegel ein. Sie kamen zum Teil bei Verwandten und Bekannten unter oder wurden vom Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben vorübergehend in einem ehemaligen Möbellager in der Brunnenstraße 70 im Bezirk Wedding untergebracht. Am 13. September brachten zwei Linienmaschinen weitere einhundertsiebzig Ungarn-Flüchtlinge nach Tegel.

 

Mit der ständigen Öffnung der ungarischen Grenzübergänge nach Österreich tat sich im sogenannten Eisernen Vorhang, der Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs in eine sowjetische und in eine amerikanische Einflußsphäre teilte, erstmals ein unbewachtes Tor auf. Mit der Massenflucht aus der DDR setzten gleichzeitig Massenproteste in der DDR selbst ein. Beide Entwicklungen ließen die politische Führung des zweiten deutschen Staates in eine Schockstarre verfallen. Als das dogmatische SED-Regime nicht länger auf die Unterstützung von reformkommunistischen Staaten wie der Volksrepublik Polen oder der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik bauen konnte und auch die reformwillige Sowjetunion weltanschaulich auf Abstand zum SED-Regime ging und ihm militärisch nicht beizustehen gedachte wie am 17. Juni 1953, stand für einen politischen Beobachter wie Peter Wyden fest, auch die Berliner Mauer würde fallen, ja, sie würde fallen müssen, allein die Frage war, wann.

 

Am 9. November 1989 war es so weit. Kurz vor Mitternacht hoben sich die Schlagbäume an den Grenzübergängen der geteilten Stadt. Tausende Ost-Berliner hatten sich aus der Leibeigenschaft selbst entlassen und strömten in den Westen. An den Kontrollstellen kam es zu keinen Zwischenfällen, wie die Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an die Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße berichteten. Danach passierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November schätzungsweise achtundsechzigtausend Ost-Berliner zu Fuß beziehungsweise mit dem Auto die innerstädtische Sektorengrenze in Richtung Westen, davon allein elftausendeinhundert am Grenzübergang Chausseestraße, der seit 23 Uhr 40 für alle Zivilpersonen geöffnet war. Auch der Lagedienst der West-Berliner Polizei meldete kurz nach 1 Uhr einen Massenansturm an der Kontrollstelle; in der Chausseestraße würden die „Grenzanlagen sozusagen überrannt, ungehinderte Ein- und Ausreise“, hieß es in einem Fernschreiben.

 

Gegen halb acht Uhr morgens hatte sich am Freitag die Lage vorübergehend beruhigt. Nur wenige Fahrzeuge und Fußgänger passierten die Sektorengrenze zu einer Stunde, in der die Berliner in Ost und West gewöhnlich zur Arbeit gingen. Über den Grenzübergang Chausseestraße kamen im Laufe des Tages schätzungsweise zwölftausend Personen in den Westteil der Stadt, und achttausend kehrten bis zum Abend in den Ostteil zurück, wie die West-Berliner Behörden später bekanntgaben. In diesem Falle stimmten die Schätzungen in West und Ost annähernd überein.

 

Nur wenige Monate zuvor wäre eine nicht genehmigte Ausreise aus der DDR noch ein lebensgefährliches Unterfangen gewesen, wie das Beispiel zweier junger Männer zeigt, die am 8. April 1989 die Sperranlagen an der Chausseestraße von Südosten nach Nordwesten zu überrennen versucht hatten und nur durch einen mutmaßlichen Warnschuss gestoppt worden waren.

 

Beide Sperrbrecher erhielten mehrjährige Haftstrafen in der DDR, kamen aber durch den Mauerfall am 9. November und den unmittelbar darauf folgenden Untergang des sozialistischen deutschen Staates vorzeitig frei. Dem Schützen wurde 1993 vor dem Berliner Landgericht der Prozess gemacht. Das Gericht sprach den ehemaligen MfS-Agenten im Rang eines Hauptmanns sowohl vom Vorwurf des versuchten Totschlags als auch vom Vorwurf der Nötigung der Flüchtlinge frei; die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen mit Zwangsmitteln, wie etwa dem Abgeben von Warnschüssen, sei durch DDR-Recht gerechtfertigt gewesen, erklärte das Gericht.

 

Zwischen der Liesenstraße im Nordosten und der Wöhlertstraße im Südosten erstreckte sich der Grenzübergang Chausseestraße, gleichsam wie der mächtige Zwinger eines mittelalterlichen Stadttores, über eine Gesamtlänge von etwas über einhundertfünfzig Metern. Zum Kontrollpunkt gehörten die Grundstücke Chausseestraße 91 bis 94 beziehungsweise 56 bis 62. In Höhe der Grundstücke Nr. 92 beziehungsweise Nr. 61 stand ein Beobachtungsturm der Grenztruppen der DDR mitten auf der Fahrbahn, ein zweiter auf dem Gehsteig des Grundstücks Nr. 58. Die Fußgänger passierten den Grenzübergang auf dem südwestlichen Gehsteig, also entlang der Grundstücke Nr. 91 bis 94. Die Fahrzeugspuren waren vom Fußgängerbereich durch einen Metallzaun abgetrennt und wegen der vielen künstlichen Hindernisse nur mit gedrosseltem Tempo und im Slalomkurs zu befahren. An der Nordecke des Grundstücks Nr. 94 fand die Passkontrolle und an der Südecke desselben Grundstücks die Zollkontrolle und der Zwangsumtausch von Devisen statt. Innerhalb dieses modernen Zwingers waren die Bediensteten dreier Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR tätig:

a) die Soldaten der Grenztruppen,

b) die uniformierten Agenten der Passkontrolleinheiten und

c) die Zöllner.

Zuständig für die Grenztruppen war das Ministerium für Nationale Verteidigung. Die Passkontrolleinheiten unterstanden dem Ministerium für Staatssicherheit und die Zöllner dem Ministerium für Außenhandel. Das Hinterland der Grenzübergangsstelle wurde von den Grenztruppen gesichert und von der Deutschen Volkspolizei überwacht. Für Letztere war das Ministerium des Innern zuständig. Anders als die Bezeichnung vielleicht vermuten lässt, wurden von den sogenannten Passkontrolleinheiten die Pässe nicht nur kontrolliert, sondern jeder Ausweis auch abfotografiert, um die Grundlage für Spionage, Doppelausweise und so weiter zu schaffen. Einer solchen Passkontrolleinheit gehörte auch der oben erwähnte Hauptmann an, der im April am Grenzübergang Chausseestraße das Feuer eröffnet hatte.

 

In Höhe der Total-Tankstelle (Chausseestraße 61) erinnern heute die bebilderte und mehrsprachig beschriftete Plexiglasstele des Freilichtmuseums „Geschichtsmeile Berliner Mauer 1961–1989“ sowie ein Bodendenkmal mit mehreren Dutzend Kaninchensilhouetten aus Messing an den früheren innerstädtischen Grenzübergang. Das Todesstreifen-Denkmal der Multimediakünstlerin Karla Sachse aus dem Jahre 1999, das den sinnfreien Titel „Kaninchenfeld“ trägt, bestand ursprünglich aus einhundertzwanzig Figuren. Innerhalb von zwanzig Jahren ist etwa die Hälfte davon buchstäblich unter die Räder von Baufahrzeugen geraten und verloren gegangen.

 

Nur einen Steinwurf weit davon entfernt steht hingegen schon seit 1962 hell und fest in der Grünanlage zwischen Liesenstraße und Schulzendorfer Straße das „Wiedervereinigungsdenkmal“ von Hildegard Leest. Die Skulptur aus grob behauenem Muschelkalk zeigt zwei überlebensgroße stilisierte menschliche Figuren, die sich über ein unsichtbares Hindernis hinweg die Hände reichen. Über die ursprüngliche politische Botschaft hinaus ist die klobige Steinmetzarbeit inzwischen ein sinnfälliges Denkmal für die friedliche Grenzöffnung am 9. November 1989 geworden.

 

Ungehinderten Zugang in Ost-West-Richtung und umgekehrt hatten seit dem 9. November 1989 nur DDR-Bürger. Den Sichtvermerk für die Ausreise in den Westen erhielten sie vielerorts auch kurzfristig. Dazu hatte die Deutsche Volkspolizei außerordentliche Dienststellen des Pass- und Meldewesens, sogenannte Sondermeldestellen, eingerichtet. Das Visum war zunächst für ein halbes Jahr gültig.

 

Für West-Berliner hingegen galten weiterhin die Bestimmungen der innerdeutschen Vereinbarung über den Reise- und Besucherverkehr vom 17. Dezember 1971, die gleichzeitig mit dem Vier-Mächte-Abkommen am 3. Juni 1972 in Kraft getreten waren. Danach mussten West-Berliner einen sogenannten Visumberechtigungsschein beantragen, und sie mussten wie alle anderen ausländischen Besucher auch beim Grenzübertritt fünfundzwanzig D-Mark zum Kurs 1:1 in Mark der DDR umtauschen. Die Einreise nach Ost-Berlin war nur zu Fuß oder mit dem Auto möglich. Diese Bestimmung wurde von der DDR als Erstes gestrichen. Seit dem 13. November waren auch Motorräder und Fahrräder zur Einreise zugelassen. Um die Bedingungen für einen gemeinsamen Devisenfonds zu erfüllen, welchen die Bundesregierung erstmals am 28. November vorgeschlagen hatte, hob der Ministerrat der DDR am 21. Dezember die Reisebeschränkungen für West-Berliner und Bundesbürger größtenteils auf. Die Verordnung trat an Heiligabend in Kraft. Für die Einreise genügte fortan der Behelfsmäßige Personalausweis beziehungsweise der Reisepass. Der Zwangsumtausch entfiel, ebenso der Visumberechtigungsschein für West-Berliner. Als Visa-Ersatz wurde indes die sogenannte Zählkarte eingeführt, die angeblich „statistischen Erhebungen“ beziehungsweise „melderechtlichen Interessen“ diente, in Wahrheit aber vom Ministerium der Staatssicherheit beziehungsweise von dessen Folgebehörde, dem am 17./18. November gebildeten Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), eingesammelt und ausgewertet wurde. Der Besucher erhielt die postkartengroße Zählkarte bei der Einreise in die Hand gedrückt und musste sie bei der Ausreise ausgefüllt wieder abgeben. Einzutragen waren Anschrift, Geburtsdatum, Vor- und Zuname und die Passnummer. Auch Transitreisende von und nach Berlin mussten eine solche Zählkarte ausgefüllt bei sich führen.

 

Der Staatssicherheitsdienst archivierte die Zählkarten in der Ferdinand-Schulze-Straße im Bezirk Hohenschönhausen. Nachdem das Amt für Nationale Sicherheit am 15. Januar 1990 auf Drängen des „Runden Tisches“ seine Tätigkeit einstellen musste, übernahmen die Grenztruppen der DDR die Passkontrolle an der Staatsgrenze einschließlich der Sektorengrenze. Am 24. Januar gab das Ostdeutsche Ministerium des Innern schließlich der Bitte des Regierenden Bürgermeisters von Berlin nach und schaffte die Zählkarte im innerstädtischen Reiseverkehr ganz ab, während sie im Transitverkehr von und nach Berlin einige Zeit lang noch beibehalten wurde.

 

Bis zum 9. November 1989 führte in West-Berlin der erste Weg eines Ostdeutschen meist ins Rathaus, seit dem 10. November auch aufs Postamt oder in eine Bank oder Sparkasse, wo er sich das sogenannte Begrüßungsgeld auszahlen lassen konnte, das ihm gesetzlich zustand. Zur Unterstützung von Besuchern aus der DDR hatte die deutsche Bundesregierung 1970 ein Handgeld in Höhe von dreißig D-Mark eingeführt, das zweimal im Jahr in Anspruch genommen werden konnte. Als die DDR ab 1. Juli 1988 den Devisenumtausch von siebzig auf fünfzehn Mark senkte und damit seine Bürger quasi mittellos auf Reisen ins westliche Ausland schickte, hob die Bundesregierung am 1. September 1988 den Betrag auf hundert D-Mark an, der aber nur einmal im Jahr in Anspruch genommen werden konnte. Das Begrüßungsgeld musste förmlich beantragt werden. Dazu war ein „Antrag auf Bargeldhilfe“ mit Durchschlag auszufüllen. In den Postämtern, Banken und Sparkassen gab es stattdessen einfache Auszahlungsvordrucke. Um Betrügereien vorzubeugen, wurde die Auszahlung im Personalausweis beziehungsweise Reisepass vermerkt, meist in Form eines Datumsstempels und einer Markierung mit Filzstift.

 

Der Fall der Mauer am 9. November stellte nicht nur die Kassenstellen in den Rathäusern der zwölf Bezirke, sondern auch die Banken und Postämter vor Probleme, weil sie auf einen derart großen Zustrom von Antragsstellern nicht eingerichtet waren. Überall bildeten sich lange Warteschlangen.

 

Um den starken Zustrom zu bewältigen, verlängerten Behörden, Banken und Sparkassen ihre Öffnungszeiten und hielten ihre Schalter auch an den Wochenenden offen. Das Bezirksamt Wedding richtete im BVV-Saal neunzehn zusätzliche Auszahlungsstellen ein. Im Altbau waren es vier. Seit dem 11. November arbeiteten fünfzig Rathausbedienstete in zwei Schichten ab 8 Uhr morgens in den Auszahlungsstellen.

 

Das Begrüßungsgeld wurde zum 1. Januar 1990 abgeschafft und letztmals am 29. Dezember 1989 ausgezahlt. Beide deutsche Staaten hatten sich am 5. Dezember darauf geeinigt, einen gemeinsamen Devisenfonds für DDR-Bürger einzurichten. Dadurch konnten Auslandsreisende jährlich zweihundert D-Mark im gleitenden Wechselkurs von 1:1 und 1:5 umtauschen. Der Reisedevisenfonds war eigentlich auf zwei Jahre angelegt, aber schon nach einem halben Jahr mit der Währungsunion überflüssig geworden. Die Zuschläge zum Begrüßungsgeld, die einige Bundesländer und Kommunen zahlten, wurden DDR-Bürgern bis zum 1. Juli 1990 hingegen weiterhin gewährt.

 

 

 

 

 

Anmerkungen

/1/ ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst): Der „große Coup“ aus der BRD. In: Neues Deutschland, 44. Jahrgang, Nr. 215, 12.09.1989, Seite 2.

/2/ Der Tagesspiegel, 45. Jahrgang, Nr. 13366, 12.09.1989, Seite 3.

/3/ Berliner Zeitung, 45. Jahrgang, Nr. 84, 10.04.1989, Seite 2.

 

 

Literatur und Quellen:

Berliner Morgenpost; Berliner Zeitung; Der Tagesspiegel; Neue Zeit; Neues Deutschland

Berlin Handbuch - Das Lexikon der Bundeshauptstadt. Herausgegeben vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin. Zweite, durchgesehene Auflage. Berlin 1993.

"Information über die Entwicklung der Lage an den Grenzübergangsstellen der Hauptstadt zu Westberlin sowie an den Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD" vom 10. November 1989 (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik / Stasi Mediathek / BStU, MfS, Sekr. Mittig, Nr. 30, Bl. 96 sowie Bl. 104); "Lageplan der Grenzübergangsstelle Chausseestraße mit Skizze des Verlaufs eines Fluchtversuches" (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik / Stasi Mediathek / BStU, MfS, HA VI, Nr. 1308, Bl. 15); "Schreiben des neuen AfNS-Leiters Wolfgang Schwanitz an die Leiter der Diensteinheiten zur zukünftigen Kompetenzverteilung" (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik / Stasi Mediathek / BStU, BdL/Dok., Nr. 8891, Bl. 1-7); Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen deutschen Demokratischen Republik: Vertiefung zum Plakat "Urlaub und Erholung". Berlin 2014. Seite 2 (https://www.bstu.de/assets/bstu/de/Downloads/schulausstellung_vertiefung-zum-poster_urlaub-und-erholung.pdf).

Chronik 1989/1990 / 1. Januar 1990 - Auf dem Weg zur Deutschen Einheit / Reisedevisenfonds ersetzt Begrüßungsgeld. Herausgegeben vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Berlin 2019 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reisedevisenfonds-ersetzt-begruessungsgeld-462888).

Kartenwerk K4 / Kartenblatt 4237 / Ausgabe 1988 / Zusatz: 1 (http://histomapberlin.de/histomap/de/index.html (Chausseestraße 1)).

Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) vor dem Deutschen Bundestag am 28.11.1989 (https://www.ddr89.de/d/kohl.html).

Peter Wyden: Die Mauer war unser Schicksal. Mit einer Mauer-Chronik von Hartwig Bögeholz. Berlin 1995.