DER POKAL
Von Wolfgang W. Timmler
Der schwarze Fahrdraht zerschnitt die Wolke, und ein bläulicher Funke schoß aus dem Strombügel, als die Straßenbahn beschleunigte. Die Fahrt ging am Tennisplatz vorbei. Über dem Klubhaus wehte die Reichskriegsflagge. Direktor Dersch vom Chemiewerk nahm wieder Stunden. Ein Lastwagen überholte. Er hatte Kies geladen. In der Hitze glänzten die glatten Steine wie Emaille. Die Bahn fuhr langsamer und hielt am Stadion. Ächzend öffnete sich die Falttür. Eine Frau mit einem Einkaufswagen stieg aus. Die Bahn ruckte und rollte weiter. Die Sonne brannte auf das Dach der Tribüne und stach in den Augen. Ein Rasensprenger zuckte auf dem Spielfeld. Das Wasser wob einen glitzernden Schleier, der angenehm kühl war. Marbel ging quer über den Rasen. Sie schob den Einkaufswagen mit den Plastiktüten in die erste Reihe und schlug ihren Klappstuhl auf. Im Schatten der Tribüne schmolz das grelle Licht und zerrann wie Schnee. Rote Sterne und schwarze Hakenkreuze waren auf die grauen Holzbänke gesprüht. Es stand 9:5 für die Schwarzen. Marbel holte eine zerbeulte Tabakdose hervor und drehte sich mit Zeitungspapier eine Zigarette. Sie war keine starke Raucherin. Eine Zeitung reichte ihr den ganzen Monat. Sie rauchte und beobachtete den Rasensprenger. Ein Regenbogen schimmerte über dem dunklen Muster, das der Einkaufswagen ins nasse Gras gepflügt hatte. Auf der anderen Seite des Fußballstadions lag das Klubhaus. Weiße Gardinen hingen am Fenster. Die Fassade war mit braunen Platten verkleidet und erinnerte an Schokolade. Dahinter erhob sich träge aus dem dunstigen Blau die Silhouette der chemischen Fabrik, ein mächtiges Gebirge aus Stahl und Glas, das Essig ausschwitzte.
"Hey!", brüllte ihr eine Männerstimme ins Ohr.
Es war Veit. Er alberte herum und puffte sie in die Seite, dass es wehtat. Einen Augenblick lang hasste sie ihren Vetter, der gut war, aber auch plump und grob wie ein Bär. Sie zuckte zusammen, als Veit seine Hand auf ihren Arm legte. Sie fühlte sich kalt und feucht an.
"Wo bist du gewesen?", fragte sie.
"Drüben", sagte er.
Der Raum hatte weiß gekachelte Wände und ein schmales Fenster. Durch die Milchglasscheibe sickerte trübes Licht und schloss Marbel unbarmherzig ein wie eine Kühlschranktür. Marbel streifte den Büstenhalter ab und betrachtete sich im Spiegel. Ein fremdes Gesicht starrte sie an in diesem hässlichen Licht. Bleich und zerbrechlich sah es aus. Das Gesicht gehörte ihr nicht. Es war das Gesicht einer Toten. Marbel kam immer montags zum Duschen. An diesem Tag war kein Training. Die Putzfrau ging kurz vor zwölf, und Marbel konnte in die Umkleidekabinen. Veit erlaubte es. Ein guter Mensch war Veit. Alle anderen gingen ihr aus dem Weg, seit Marbel auf der Straße lebte mit ihrem Einkaufswagen und ihrem Klappstuhl. Dabei hielt sie sich sauber. Nur manchmal ging etwas daneben. Eine Tasse Kaffee. Oder ein Löffel Suppe. Das lag an den Tieren. Marbel wusste nicht, woher sie kamen und warum sie in ihrem Kopf waren. Die Tiere machten ihr Angst. Manchmal verließen sie den Kopf und krochen durch den ganzen Körper. Marbel spürte sie auch jetzt unter der Haut.
"Was hast du gesagt, Veit?", sagte sie.
"Ich habe gesagt, das Chemiewerk versaut den ganzen Horizont", gab er zur Antwort.
Kleine Tropfen funkelten wie Diamanten in ihrem Haar. Marbel saß in ihrem Klappstuhl und kaute an einem Wurstbrot. Veit hatte es für sie aufgehoben. Er hockte auf der Trainerbank und rauchte die Zigarette, die sie ihm gedreht hatte. Er hüstelte nach jedem Zug und starrte auf das Spielfeld. Ein feiner Schwarm Mücken tanzte über das Gras, ohne die Halme zu berühren.
"Die Mannschaft trainiert nächste Woche auch montags. Er will, dass sie den Pokal holen", sagte Veit.
Ihre Hände begannen zu zittern. Ich wette, dass sie es nicht schaffen, hörte Marbel sich sagen. Sie fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Ein kalter Wind wehte vom Rasen herüber, der sie frösteln ließ.