18. Juli 2019

Ich schlage einen Volley Slice in die hintere Ecke der Wiese

 

Sommerloch. Es ist Montagmorgen, aber die Woche ist schon gelaufen. Kaum jemand ist unterwegs, und die wenigen, die sich bewegen, scheinen alle kein Ziel zu haben. Der Rhythmuswechsel kam so schnell, dass ich für ein, zwei Tage auf eine sehr unelegante Art und Weise immer wieder etwas zu laut und zielstrebig unterwegs war. Zum Glück habe ich dann mehr aus Zufall das Wimbledon-Erstrundenspiel von Cori „Coco“ Gauff gegen Venus Williams gesehen und danach die meiste Zeit vor dem Laptop verbracht. Kaum ein Spiel auslassend, nicht auf die Zeit achtend und mir keine Sorgen machend, wie es weitergehen soll mit den Projekten, der Kunst, Merkels Zittern, dem Klimawandel und dem amerikanischen Präsidenten, tauchte ich immer tiefer in das Spiel auf dem grünen Rasen mit den weißen Linien ein. Im Bett liegend konnte ich zudem die Urlaubsbomber betrachten, die still und leise ihre Linien in den blauen und hohen Himmel zogen. Ich empfand dabei kaum Sehnsucht, so gut gefiel es mir im Bett mit dem Laptop auf dem Schuhkarton und einer Flasche Sprudelwasser in greifbarer Nähe. Wenn das so ist, dachte ich, kann ich auch liegen bleiben.

Ich habe schon immer Wimbledon gesehen, aber noch nie so viel wie dieses Jahr. Eine der ersten Erinnerungen an das Turnier ist mit dem Namen „Wimbledon“ und der Frage verbunden, warum es nicht so ausgesprochen wie geschrieben wird. Als Kind dachte ich, es sei ein Rechtschreibfehler, was aber so gar nicht zu der Eleganz und der Seriosität der Veranstaltung passen mochte, also behielt ich das Geheimnis für mich. Ich prägte mir einfach ein, dass man es Wimbelden aussprach und war dennoch überzeugt, dass ich da etwas erkannt hatte, was noch niemand zuvor gesehen hatte. 

Früher fühlten sich die Sommerlöcher anders an. Ich erinnere mich noch daran, wie ich am 11. September 2001 – in Stuttgart fängt die Schule erst Mitte September wieder an – mit Schulfreunden Kicken war und mir auf dem Weg zurück auffiel, dass die Stimmung nicht mehr so gut wie auf dem Hinweg war. Die Erinnerung kann trügen, denn damals saßen die Leute ja noch nicht mit den Smartphones in der S-Bahn, weshalb die Mehrheit wohl noch gar nicht wusste, was passiert war. Als ich Zuhause ankam und mein mittlerer Bruder mir im kühlen Treppenhaus mit der Nachricht entgegenkam, dass unser ältester Bruder heute nicht ins Kino gehen würde, weil die Twin Towers eingestürzt wären, habe ich erst einmal gar nichts verstanden. Ich wusste nicht, was die Twin Towers sind, hatte noch nie vom World Trade Center gehört und war dennoch auf eine subtile Art und Weise verunsichert. Zudem hatte ich brennenden Durst. Wir saßen den restlichen Nachmittag zusammen auf dem Sofa und schauten in der vielleicht ersten Bildschleife der Fernsehgeschichte auf die immer wieder aufs Neue einstürzenden Türme. Selbst mein Vater saß neben uns, was er damals nur selten gemacht hat, und hörte nicht auf, seinen Kopf zu schütteln.

Wenige Tage danach ging die Schule wieder los. Ich besuchte ein katholisches Privatgymnasium und jeden Morgen wurde gebetet. An diesem ersten Schultag nach den Sommerferien 2001 beteten wir extra lange. In der anschließenden offenen Runde, in der jeder seinen Gefühlen Ausdruck verleihen durfte, erzählte ein Mädchen unter Tränen, dass sie den Sommer in New York verbracht hätte und die Mutter einer ihrer Freundinnen im WTC ums Leben gekommen sei. Noch heute frage ich mich, ob das wohl stimmte oder sie uns nur erzählen wollte, dass sie in New York war. Sie war eine, die immer viel erzählte, und etwas an der Geschichte schien mir nicht zu stimmen. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es war einer von den normalen, Julia, Eva, Maria oder so ähnlich.

Ich weiß nicht genau, wie ich jetzt von Wimbledon zu 9/11 komme, aber so ist das im Sommerloch: Die Dinge hängen nur sehr lose zusammen, ergeben keinen rechten Sinn und floaten eher so durch den Raum. Dabei wechseln sich gute mit schlechten Nachrichten ab, oder eher die Bewertung ein und derselben Nachricht. Es ist ein bisschen, wie ein James-Blake-Album zu hören: Du weißt nicht genau, warum die Augen nass werden. Ich gehöre zu jenen Personen, die traurige Musik glücklich macht, weshalb ich Schwierigkeiten bekomme, wenn ich fröhliche Musik auswählen soll. So auch vor ein paar Wochen, als ich mit meinen Brüdern durch Griechenland fuhr und mich mein ältester Bruder bat, Gute-Laune-Musik anzumachen. Er hat nur gelacht, als ich Easter spielte, und ich meinte, dass das zum Fröhlichsten gehört, was ich bei Spotify offline zur Verfügung habe. Dann haben wir ein Set von Vril gehört, das er 2014 im Stadtbad Wedding spielte. Das liegt auch nur ein Häuserblock von meiner Wohnung entfernt, wobei dort, wo es stand, mittlerweile ein Wohnblock für Studierende steht, ununterscheidbar von den ganzen anderen hässlichen Blöcken, die hier gebaut werden. Ich könnte nicht sagen, warum ihn das Set fröhlicher machte als Easter, aber wir fuhren mit offenen Fenstern über die Autobahn nach Athen.

Zu den Besonderheiten von Wimbledon zählt das Wetter. Anders als es die stereotypische Vermutung nahelegt, scheint während des Turniers eigentlich immer die Sonne in London. Ich kann mich an kein einziges Jahr erinnern, das von stärkeren Regenphasen betroffen gewesen wäre, und auch dieses Jahr gab es keine nennenswerten wetterbedingten Unterbrechungen (nach einer kurzen Recherche muss ich sagen, dass die Fakten anders liegen). Es gehört einfach zum Bild des Turniers, dass der Rasen grün und der Himmel blau ist. Und weil die Sonne so viel scheint, zählt auch die Wanderung des Schattens auf dem Center Court zu diesem Bild. Pünktlich um 18 Uhr Londoner Zeit sinkt die Sonne so ab, dass die südöstliche Dachkante einen scharfkantigen Schatten auf den Platz wirft, der im Verlauf einer Stunde den gesamten Platz einnimmt. Davon beeinflusst ist im Besonderen das Aufschlagspiel.

Gestern, beim Finale der Herren, setzte mit dem Auftauchen des Schattens auf dem östlichen Zipfel des Platzes die Niederlage Federers gegen Djokovic ein. Schon früher, als der Schatten den Rasen noch gar nicht erreicht hatte, blickte FedEx immer wieder skeptisch in den Himmel und schien es mit einem Mal eilig zu haben. Doch der Schatten kam. Federer hatte zudem das Pech, genau in jenen Momenten auf der Nordseite aufschlagen zu müssen, als das Licht die Wurfbahn in eine hellere und eine dunklere Hälfte teilte. So stieg der Ball beim Hochwerfen zunächst durch den Schatten und erreichte in der oberen Hälfte die Sonne. Er machte zwar keine direkten Aufschlagfehler, doch seinem Service fehlte jetzt die nötige Präzision, oder, wie es Boris Becker bei BBC kommentierte: „He is not hitting the spots anymore.“

Das Abdunkeln des Courts verlieh der Partie zusätzliche Epik. Wie schon 2008, als Federer nach knapp fünf Stunden gegen Nadal verlor, umarmten sich Djokovic und Federer nach dem längsten Spiel der Wimbledon-Geschichte am Netz im Zwielicht. Es hat wie vor elf Jahren auch gestern nicht viel gefehlt und Federer hätte das Spiel gewonnen, aber in den entscheidenden Ballwechseln war er wieder schwach, oder besser: verletzlich. Es gehört zu seinem Spiel, dass er verletzlich ist, was ihm auf der eine Seite ein unfassbares Antizipation verleiht, ihm aber auf der anderen Seite eine ständige Suche nach Halt aufzwingt. Er hat keine festen Systeme, wie Djokovic mit seiner klinischen Präzision oder Nadal mit seiner brachialen Gewalt, sondern eine Art immerwährende Öffnung auf das Äußere, die ihn angreifbar macht. Die tiefstehende Sonne war offensichtlich zu viel für ihn.

Das Schönste am Sommerloch ist, dass man weniger der Illusion aufsitzt, was man tue, habe eine Bedeutung, die über einen selbst hinaus geht. Das sage ich mir laut, während ich durch den Humboldthain spaziere. Auf der anderen Seite des Zauns, im Sommerbad Humboldthain, steigt ein Mann im Neoprenanzug aus dem Becken. Mir entgegen kommt ein Jogger im Chance-2000-Shirt, der zur Musik auf seinen Ohren singt. Der Wind pustet gleichmäßig durchs sonnenverbrannte Laub, es raschelt leise. Dann ist es plötzlich mucksmäuschenstill. Ich stehe auf dem Schotterweg, wende mich nach rechts zur Wiese, tippe den Ball ein paar Mal auf die Grasnarbe, werfe ihn hoch, schlage ihn weit links ins Feld, stürme vor, nehme den Return und schlage einen Volley Slicerechts in die hintere Ecke der Wiese. Die Spatzen zwitschern wilden Applaus. 

Bernhard Jarosch