1. Juli 2019

U7

Lui liebt Tina liebt Lui

DIE U-BAHN FÄHRT AB.

 

Guten Tag! Ihre Fahrscheine, bitte sehr!, - sind mir nicht egal. Wer hätte für mich einen Fahrschein übrig? Wer braucht seinen Fahrschein nicht mehr? Keiner? Ja, fahren hier denn alle schwarz? Eine Frage: Wer von Ihnen ist Rolling-Stones-Fan? Keith Richards? Mick Jagger? Nie gehört? Rolls-Royce? Nein? Ich sehe schon: Brexit total! Okay. Dann spiele ich jetzt was für Sie von Tirz4Firz. Die Band kenne nicht mal ich.

 

DER STRASZENMUSIKANT BEGLEITET SICH AUF DER GITARRE.

 

Lang ist der Weg zu dir und so

So weit, so lang

Und so weit, als wär's die Ewigkeit.

Rathaus Spandau, Altstadt Spandau,

Zitadelle, Siemensdamm,

Halemweg, Jungfernheide,

Möckernbrücke, Mehringdamm,

Hermannplatz: Nicht umsteigen!

Rathaus Neukölln, Britz Süd.

Rudow.

Rudow.

 

DER STRASZENMUSIKANT BITTET DIE FAHRGÄSTE UM EINE MILDE GABE.

 

Vielen Dank! Thank you very much. Merci beaucoup. Ogromnoe spassibo. Gamsahabnida. Dankeschön. Und noch einen schönen Tag Ihnen allen.

 

DER STRASZENMUSIKANT VESPERT.

 

Ich weiß, meine Stimme klingt nicht gut, und mein Gitarrenspiel ist auch nicht besonders, aber bei der Musik, die ich in der U-Bahn mache, ist das nicht so wichtig. In der U-Bahn kommt es nicht darauf an, ob du gut spielen oder gut singen kannst, in der U-Bahn kommt es nur auf die richtige Tonart an. E-Dur zum Beispiel: Vier Kreuze. Cis! Dis! Fis! Gis! In E-Dur steckt alles drin: Zorn! Trauer! Freiheit! Glück! Vier Kreuze. Das bedeutet: Du hast nichts zu sagen. Er hat nichts zu sagen. Sie hat nichts zu sagen. Ich habe nichts zu sagen. Wir haben alle nichts zu sagen. Wir fahren alle U-Bahn. Peng! Peng! Peng! Peng!

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE.

 

Na ja, singen würde ich das nicht nennen, was ich da mache, genau genommen, ist das so halb gesprochen und so halb gesungen, Monodie. Monodie kann ich ganz gut. Ich versuche, die Leute in der U-Bahn damit zu unterhalten, mit Monodie von ihrer Monotonie ein bißchen so abzulenken. Das ist nicht wenig. Ich spiele und singe den Leuten ja richtig was vor. Das ist viel mehr als so ein bißchen Unterhaltung. Das ist ein richtiges Erlebnis für Leute, die sonst nichts erleben. Ohne Musik wäre ihr Leben ja blanker Irrsinn. Und dafür müßten sie mir eigentlich sehr dankbar sein. Die Leute hören meine Musik ja nicht nur mit den Ohren, sie hören meine Musik auch mit den Augen.

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE.

 

Die Musik ist schon eine merkwürdige Sache. Zum Beispiel weiß meine Gitarre nicht, was Gefühle sind. Sie hat keinen blassen Schimmer, was es heißt, fröhlich oder traurig zu sein. Trotzdem kann ich mit meiner Gitarre die Leute so tief empfinden lassen, wie ich es ohne die Gitarre niemals könnte. Das ist schon ziemlich schräg, finde ich. Ich meine, ich mache Musik mit einer lackierten Holzschachtel, die nicht mal weiß, was es heißt, gespielt zu werden. Noch viel schräger ist aber, daß ich keinen Akkord zurückholen kann, den ich gespielt habe; der Akkord ist weg, egal, ob ich ihn zu früh oder zu spät gespielt habe, das ist völlig cello! Der Akkord ist weg wie der Regentropfen im Meer. Das ist wirklich ganz schön schräg, finde ich, so richtig peng, peng, peng, peng ist das!

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE.

 

Die Leute sagen: Spielen ist doch Nichtstun. Ich sage: Nichts tun ist göttlich. Ich kenne keinen Gott, der morgens zur Arbeit fahren müßte so wie ihr, liebe Leute. Die Leute haben null Ahnung, was es heißt, Musiker zu sein. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Arbeit in meiner Musik steckt. Musik machen heißt erst mal stundenlang Tonleitern üben, während dir so wichtige Fragen durch den Kopf gehen: Wie wäre es, jetzt ein heißes Bad zu nehmen? Wie wäre es, jetzt mit einer schönen Frau zusammen zu sein? Von so wichtigen Fragen kann aber kein Mensch leben. Also läßt du das heiße Bad heißes Bad sein und die schöne Frau schöne Frau und übst brav Tonleitern und gehst anschließend Musik machen in der U-Bahn.

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE.

 

An guten Tagen mache ich vielleicht fünfzig Token, an schlechten Tagen höchstens fünfzehn, manchmal nur fünf, weil mir die Sheriffs ständig hinterher sind. Peng! Peng! Peng! Peng! Wenn der Beruf lebensgefährlich ist, sollte man ihn eigentlich wechseln, es sei denn, man glaubt an die Wiedergeburt und will so oft wie möglich wieder auf die Welt kommen. Peng! Peng! Peng! Peng!

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE UND MUNDHARMONIKA.

 

Wie ich sie das erste Mal hier gehört habe, hat es mir buchstäblich den Atem verschlagen. Was für eine Stimme, habe ich gedacht, groß, klar, samtig. Eigentlich ist die U-Bahn wirklich der letzte Ort, wo ich eine solche Stimme erwartet hätte. Die U-Bahn ist schließlich nicht die Oper. Trotzdem würde ich jetzt alles dafür hingeben, na ja, meine Gitarre wahrscheinlich nicht, ich will ja nicht übertreiben, aber meine Mundharmonika, die würde ich jetzt schon dafür hingeben, für ein Rendezvous mit ihr, ich meine, mit der Sprecherin. Jedenfalls fahre ich seitdem nicht mehr mit der Tram. Ich fahre seitdem auch nicht mehr mit dem Bus. Ich fahre nur noch mit der U-Bahn. Die U-Bahn ist seitdem mein Himmel auf Erden, und die U-Bahn ist seitdem meine Hölle auf Erden.

 

DER STRASZENMUSIKANT SPIELT GITARRE.

 

Jedes Mal, wenn ich diese vier Glockenschläge höre. Peng! Peng! Peng! Peng! Diese vier Glockenschläge sind so richtig fies, viel fieser als das Ta-Tata-Tam vom alten Ludwig Van. Jedes Mal, wenn ich diese vier Glockenschläge höre, kriege ich plötzlich so ein flaues Gefühl im Magen, als hätte ich Federn gefrühstückt, und jedes Mal meldet sich dann eine Stimme in meinem Kopf und sagt: "Die Telefonnummer von ihr kriegst du nie, mein Freund, und weißt du auch warum? Du bist ihr so was von egal, mein Freund, so was von achtundachtzig, glaub' mir, sonst würde sie nicht jedes Mal dasselbe sagen."

 

VIER GLOCKENSCHLÄGE ERKLINGEN.

 

Endhaltestelle. Bitte alle Fahrgäste aussteigen. Der Zug endet hier.

 

DIE GLOCKENSCHLÄGE WERDEN WIEDERHOLT.

 

Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit für eine wichtige Durchsage. Der junge Mann mit der Gitarre wartet bitte im Zug auf mich. Vielen Dank.

 

 

 

 

 

Illustration: LUI LIEBT TINA LIEBT LUI

Aufnahme: Wolfgang W. Timmler, Berlin 2018