Der Künstler-als-Camper hört auf. Wir nehmen Abschied.

 

Goodbye, Jürgen Kleft: Die derzeitige Ausstellung „Ende Gelände“ im Wiener Projektraum GOMO wird KLEFTs letzte gewesen sein.  von Raphael Dillhof / Nina Lucia Groß

 


Bei einer kleinen Weihnachtsfeier in der Wiener Kaiserstraße sah ich ihn zum ersten Mal. Wir alle im Freizeitlook, er als einziges im Anzug: Jürgen Kleft, so wurde er mir vorgestellt. Viel später habe ich erfahren, dass er Künstler ist. Und dass er gerne in Zelten schläft und "sich dort mit Schaum rasiert, wie im Le Meridien" – so erzählte mir mein Freund Christopher Steinweber, sichtlich fasziniert von ihm.

Das Zelt: Die perfekte Metapher für einen Menschen im Fluss. Und dieses Zelt machte Kleft tatsächlich zum Dreh- und Angelpunkt seiner ganzen künstlerischen Praxis. Er trug es als Regenjacke, er schlief darin, nahm es als Leinwand oder er abstrahierte es zu riesig aufgespannten Ultraleicht-Skulpturen, die er überall mitnehmen, einfach ein- und auspacken konnte. Aber nicht nur das: Kleft und seine beiden Assistenten Basil Schu und Christopher Steinweber (die später zu Vollmitgliedern im Kollektiv KLEFT werden sollten) nahmen dieses Zelt und luden es intellektuell auf, paarten es mit einem Hauch von Distinktion, von Luxus (Jahre vor Glamping) – und mit dem Humor und der Absurdität, die man schließlich auch täglich in den Straßen Wiens sah, wo Jack Wolfskin-Jacken und SUVs allgegenwärtig waren, wo sich nach und nach große Teile der Bevölkerung in Funktionskleidung warfen, die Himalaya nicht einmal buchstabieren können.

Aber das Lachen über Gorpcore, das war Kleft zu wenig. Längst ging es nicht nur um die Bespiegelung der Equipment-Sucht der Prenzlauer-Berg-Prepper in Klefts Praxis – es ging um mehr. Die Rituale am Lagerfeuer, das Wearable-Zelt, die getöpferten Hosen und Jacken. Die Plattenpanzer, die Goethezitate, die Besäufnisse und Lesungen. Die Skiunterwäsche. Die Funktions-Gear. Die Silikonjacken. Die vielen Bambus-Stangen aus Keramik. Und vor allem die vielen Expeditionen. Das war nicht nur Survivalforschung für Wald, Wiese und Kunstbetrieb. Nicht nur die Frage nach dem Drang zum Erforschen, Bezwingen der Natur ging es. Aber um was?

 

 

Folie à Trois

Die letzte Seite der mächtigen Jürgen Kleft-Monografie „Shellpunk“, 2017 im Textem Verlag erschienen, ist fast leer. Rechts oben dann ein verwackeltes Selfie: Steinweber, Schuh, Kleft, auf Iso-Matten und in Schlafsäcken, um sie herum Stein und Moos, eine gelbe Tasche. Wahrscheinlich wurde das Foto in Korea aufgenommen oder im Berchtesgadener Land. Sie lachen, Kleft schaut zu Schuh und Steinweber in die Kamera. Das ganze Equipment war eigentlich immer nur Beiwerk, die drei Rucksäcke, die drei Zelte, die drei Silikonjacken; sie sind bloß Stellvertreter für das Team. Jürgen Kleft hat die Bromance erfunden, bevor sie von Männermagazinen entdeckt wurde. Die gemeinsamen Ausflüge in den Outdoorgroßhandel, das Dosenbier am Lagerfeuer, das gemeinsame Töpfern und die Sauna im Atelier; man will es ihnen eigentlich fast übelnehmen, diese scheinbar naive Reproduktion einer prototypischen Männerfreundschaft – in Zeiten, in denen sich auch die Kunst langsam von ihren Bruderschaften verabschieden muss. Man will es ihnen fast übelnehmen und schafft es dann doch nicht.

 

Neulich hat mir jemand erzählt, er hätte Jürgen Kleft in der langen Schlange am Everest gesehen, auf dem Foto, das um die Welt ging. Oder war’s die Schlange bei Edeka? Wahrscheinlich Letzteres. Denn Kleft hatte man den Bergsteiger in Wirklichkeit niemals abgenommen. Genauso wenig wie man sich nie sicher war, ob er ein Mensch ist, ein Gefühl, eine Kunstfigur, eine Projektion. Er war klettern, aber nur metaphorisch: immer ganz oben im Hochgebirge der Metaebene. Das Gerede über die Selbsterfahrung im Kampf mit den Elementen – Kleft hat sie, glaube ich, selbst nie für voll genommen. Der Fetisch des Equipments, die Faszination den Topos des Berges, der absolute Wahnsinn der Globetrotter-Filiale München – das ja. Aber wirklich da raus? Ich weiß nicht. Irgendwann werden sie verblüfft sehen, hat er mir im Vertrauen erzählt, dass die Luft am K2 gar nicht so gut ist. Sondern eher dünn.

 

Everest und Edeka, Sprühsahne und Rasierschaum

Und doch war das kein Spaßprojekt. Denn auch wenn es schwierig war, wenn der Kunstbetrieb eisige Luft in ihre Gesichter blies, sie arbeiteten, kämpften, stiegen beharrlich weiter auf. Den Gipfel im Blick. Und sowieso konnte man sich nie sicher sein, ob Kleft aus Erfahrung oder Erfindung spricht – war nicht beides vielleicht irgendwie dasselbe? Denn wenn er erzählte, dann tat er das mit der selben Ernsthaftigkeit, mit der er und seine Assistenten Steinweber und Schu zu unserem Projektraum Hamburg mit ihrer kompletten Ausstellung in drei Silikon-Rucksäcken angereist sind. Die Rucksäcke selbst wurden dann ausgestellt, zusammen mit drei Lagerfeuern, drei Zelten, drei Silikonjacken. Wir waren es gewohnt, Künstler_innen beim Aufbau zu helfen, Kleft aber hat bloß Dosenbier bei uns bestellt und sich dann mit Schu und Steinweber drei Stunden alleine im Raum zurückgezogen. Danach stand die Ausstellung und es gab Matjes und Sprühsahne, direkt aus der Dose in den Mund, und ich musste an Klefts Rasierschaum denken und wie ähnlich sich Luxus und Trash doch sehen können, und wie die Unterscheidung manchmal auch ganz egal ist. Sprühsahne und Rasierschaum: Beides Convenience-Equipment, beides zivilisatorische Überformungen des Werkzeugs, unnötig elaborierte Schnittstellen zwischen uns und dem Draußen, ästhetisch komplexe Lösungen für banale Probleme. Nichts anderes macht schließlich auch die Kunst und ihre Szene. Ihre Biennalen und Vernissagen, Modeschauen und Kataloge Noch später gab es dann Hausverbot in einer Eckkneipe.

Das Bergsteigen selbst, das hat übrigens Francesco Petrarca erfunden, sagt man. 1336 bestieg er den Mont Ventoux, und schrieb davon eine Postkarte an seinen guten Freund Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro, nicht ohne stolz: "Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen." Die Strapazen eines tagelangen Aufstiegs, einfach nur, um herunterzuschauen. Aber irgendwann, das verstehen viele nicht, weder die Bezwinger-Fraktion in der Everest-Schlange noch viele Künstlerfiguren, irgendwann muss man auch aus den höchsten Höhen wieder herunterkommen. Kleft hat das verstanden. Petrarca übrigens auch. Denn nach seinem Aufstieg, "sattsam zufrieden, den Berg gesehen zu haben", schrieb er weiter, "wandte ich den innern Blick wieder in mich selber zurück."