18. März 2019

Tumult 89/90

 

 

Zu zwei fehlenden Quellen in meiner Darstellung der Zeitschrift Tumult

 

in 

 

Kultur & Gespenster Nr. 20

»Unter dem Radar« 

296 Seiten, 23 x 16,5 cm

ISBN 978-3-941613-98-0

Textem Verlag 2019, 16 Euro 

http://www.textem.de/index.php?id=kg20-radar

 

 

Walter Seitter, »Vom rechten Gebrauch der Franzosen«, in: Tumult Heft 15, 1991, S. 5–14.

Diedrich Diederichsen, »Der Anarch, der Solitär und die Revolte. Rechte Poststrukturalismus–Rezeption in der BRD«, in: Richard Faber, Hajo Funke, Gerhard Schoenberner (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ideologie und Gewalt, Berlin 1995, S. 241–258.

Klaus Birnstiels, Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Kleine Geschichte des Poststrukturalismus, Paderborn 2016,S. 364–366.

 

Einen Tag, nachdem ich Nora von Textem die Druckfreigabe für meinen Teil des gemeinsam mit Philipp Goll und Moritz Neuffer für die neue Kultur & Gespenster verfassten Aufsatzes »Alternative Republik Tumult« geschickt hatte, las ich noch einmal in Klaus Birnstiels 2016 erschienener Kleiner Geschichte des Poststrukturalismus diejenigen Seiten über den Poststrukuralismus in Deutschland, in denen auch ein Abschnitt über die Zeitschrift Tumult zu finden ist. Dabei erschrak ich ein wenig: Zwar ist der Philosoph Walter Seitter auch in meiner Darstellung der intellektuellen Wandlungen der Tumult ein Protagonist. Den Text, den Birnstiel zur Darstellung der Verschiebungen im politischen Koordinatensystem Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre heranzieht, erwähne ich nicht: Seitters 1991 die 15. Ausgabe der »Schriften zur Verkehrswissenschaft« (Thema: »Franzosen«) eröffnendes Essay mit dem eindeutig-doppeldeutigen Titel »Vom rechten Gebrauch der Franzosen«. Birnstiel liest diesen Text 2016 vor allem mit Diedrich Diederichsens im Band Rechtsextremismus. Ideologie und Gewalt 1995 erschienenen Aufsatz »Der Anarch, der Solitär und die Revolte. Rechte Poststrukturalismus–Rezeption in der BRD«. Auch diesen Text zitiere ich nicht, während ich dem bereits 1993 in einer Sammlung von Diederichsen-Texten im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen Essay »Spirituelle Reaktionäre und völkische Vernunftkritiker« – eine Art Vorläufer des 1995er Texts – viele Einsichten in das publizistische Milieu Tumults verdanke. 

 

Diese Auslassungen sind vielleicht der Tatsache geschuldet, dass ich mich in meinem Text – einem weitverbreiteten, theoretisch leidlich zurechtfertigenden Vorurteil der Zeitschriftenforschung folgend – besonders dem Anfang der Zeitschrift, ihrer Erfindung, Gründung, Planung, ihren ersten Heften, ihrer (Nicht-)Konsolidierung gewidmet hatte, um dann ihre seltsame Wanderung von irgendwie links und antiautoritär zu ganz schön weit rechts auf deren (vorläufigen) Höhe- oder genauer Tiefpunkt im Jahr 2015/2016 hin zu erzählen. Dabei habe ich die Warnung, die ich einer solchen Darstellung am Ende meines Textes selbst mit auf den Weg gegeben hatte, nämlich »dass die Wege von Links nach Rechts zwar manchmal vergleichsweise kurz erscheinen, aber doch komplex ausfallen«, selbst nicht ernst genug genommen. 

 

Was die drei Texte – Seitter, Diederichsen und Birnstiel – (für mich) noch einmal mit aller Deutlichkeit ins Zentrum der hier zu erzählenden Geschichte rücken, ist jedenfalls die zentrale Rolle der Wiedervereinigung für das Selbstbewusstsein und den Selbstentwurf einer Neuen Rechten – gerade auch bei und durch ihre intellektuellen Träger. Mit der Wiedervereinigung und dem sich abzeichnenden Zusammenbruch der Sowjetunion geriet eben nicht nur für viele westdeutsche Linke die Welt aus den Fugen (egal wie sie selbst zur Sowjetunion standen), auch für die Rechte verschob sich der (durchaus auch bequeme) Bezugsrahmen – Besatzungsmächte, Reeducation, Westbindung z. B. – nachhaltig, auch wenn die Situation sich (manchen von) ihnen offensichtlich (zumindest kurzfristig) eher so darstellte, dass auf den Zusammenbruch der zuvor herrschenden falschen nun zumindest die Chance für eine »richtige« Ordnung folgte, eine Chance, die zu ergreifen wäre. Das gilt sowohl für eine eher staats- und geopolitische Orientierung innerhalb der bundesrepublikanischen Rechten als auch für ihr völkische Ausprägung: Während für Erstere dabei vor allem die Neuordnung Europas (und die »neue« Rolle Deutschlands in diesem) infrage steht, ist für Letztere zunächst die »friedliche Revolution« durch »das Volk«, später vielfach der »nationale Widerstand« (also: Angriffe auf Andersdenkende und als »Anders« gelesene, Ausschreitungen, Pogrome etc.) Anknüpfungspunkt. Seitter verweist in seinem Text zumindest in Nebenbemerkungen auf beide Aspekte. Er schließt (es folgen noch eine Reihe von zunehmend ätzender werdenden Postscripta) jedenfalls mit folgender Prophezeiung: »Nur wenn Deutschland sich selber bedenkt und das Denken des Politischen doch noch lernt, vermag es die Gestaltung der Macht, vermag es seinen Beitrag zur Gestaltung einer Erdmacht namens Europa verständig zu leisten.«[1]

 

Im Blick auf die Theoriegeschichte der Bundesrepublik ist der Clou von Seitters Text aber noch ein anderer: Vermittelt durch etwas, das man eine, wenn auch ziemlich krude Dialektik des Französischen (als Kultur der Kultur) und des Deutschen (als Kultur des Abgrunds) nennen könnte, ist es nun für Seitter gerade die Rezeption deutschen Abgrunddenkens (Heidegger) durch die französischen Poststrukturalisten (Foucault), die den Deutschen dieses »Bedenken« ihrer selbst und damit das Erlernen des Denkens des Politischen vielleicht (doch) noch erlauben könnte. Das ist dann, so platt muss man es wohl schreiben, der rechte Gebrauch der Franzosen. 

 

Für die Rekonstruktion der Entwicklung der (intellektuellen) Neuen Rechten einerseits, die deutsche Poststrukturalismus-Rezeption anderseits sind alle drei Texte lesenswert. An dieser Stelle habe ich mich außerdem noch einmal gefragt, was der analytische Fokus auf das Medium Zeitschrift hier hinzuzufügen vermag. Seitters Essay ist zunächst im Dezember 1990 im sechsten Heft der Zeitschrift Die Etappe erscheinen. Die Etappe wird 1988 von dem damals 38-jährigen Heinz Theo-Homann gegründet. Theo-Homann ist Ende der 1980er Jahre u. a. bei den Republikanern aktiv. Die Etappe widmet sich bis heute in A5-großen Heftchen geistesgeschichtlichen Themen. Dabei bezieht sie sich insbesondere auf antidemokratische und antiaufklärerische Denktraditionen. In ihrer Selbstbeschreibung ordnet sie sich dem Umfeld der intellektuellen Alten und Neuen Rechten am Ende der Bonner Republik zu. Aus diesem rekrutieren sich auch viele ihrer Autoren und Autorinnen. Es ist die Rede von einer nationalpolitischen Agenda. Man kann Die Etappe vielleicht als rechte Theoriezeitschrift beschreiben. Als solche hat sie eine eher begrenzte Reichweite. Mit der Wiederveröffentlichung von Seitters Aufsatz in Tumult findet eine Rekontextualisierung statt, eine Zirkulation wird eingeleitet. Umgekehrt ist Die Etappe für Seitter wiederholt (und bis heute) ein Ort, um Aufsätze zu publizieren. Seine Bücher werden hier (zumeist wohlgesonnen) rezensiert. Moritz Neuffer und ich haben an anderer Stelle über derartige Zeitschriftenökologien Folgendes geschrieben: »Sobald solche Übersetzungsinstanzen (in der Publizistik selbst, aber auch in die Politik) bestehen, gewinnt auch das zuvor Marginalisierte und Isolierte an Bedeutung.«[2] Dabei haben wir die Umbrüche 1945, 1968 und, in einem Ausblick, die vergangenen 10, 15 Jahre etwas genauer betrachtet. Wie sich das publizistische Milieu der Rechten um 1990 neu ordnet, welche Netzwerke und Ausdifferenzierungen dabei entstehen, welche medienökologische Funktion unterschiedliche Publikationen hier erfüllen, sind dann einige der Fragen, die sich im Anschluss an die zwei fehlenden und hier ergänzten Quellen stellen.

 

Morten Paul 


[1] Walter Seitter, »Vom rechten Gebrauch der Franzosen«, S. 14

[2] https://www.eurozine.com/rechte-hefte/