4. März 2019

Was davon bleibt

Foto: John Blackie/University of West Florida
Foto: Keith Edwards
Foto: John Blackie/University of West Florida
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Vor einiger Zeit habe ich ein analoges Diktiergerät ersteigert. Auf der Suche nach bespielbaren Minikassetten, es gibt kaum mehr welche zu kaufen, fielen mir die alten Kassetten früherer Anrufbeantworter ein. Von denen besaß ich noch mehrere. Sie lagern in einem Karton mit verschiedensten technischen Kleingeräten, teils bespielt, teils leer. Durch Vor- und Zurückspulen suchte ich die leeren Stellen, um neue Aufnahmen machen zu können und gleichzeitig nichts Vorhandenes versehentlich zu überspielen. Ich wusste, dass die Kassetten aus meinem früheren Anrufbeantworter stammten. Dennoch war ich überrascht, plötzlich die Stimme einer Freundin zu hören, die mir nach dem „Piep“ eine Nachricht hinterließ. Es ging um eine Verabredung, ausgeschmückt mit Details, einige Jahre her. Nun ist es ein Zufall, dass ich genau diese eine Aufnahme gehört habe und nicht eine andere (ich habe die Kassetten nur sehr sporadisch nach Leerstellen abgesucht). Durch den Umstand aber, dass ich genau diese Aufnahme hörte, formulierte sich prompt ein Link zwischen einem fragmentarischen Kleinststückwerk (der Nachricht auf dem Anrufbeantworter) gegenüber der Erinnerung einen ganzen Lebensabschnitt betreffend. 

An das damalige Abhören der Nachricht meiner Freundin kann ich mich nicht erinnern. Vielmehr: Ich habe es vergessen und ich sehe keine Möglichkeit, die Erinnerung daran wieder hervorzuholen. Auch die Nachricht selbst hatte ich vergessen. Ich bekam häufig eine Nachricht auf den Anrufbeantworter und diese jene hatte damals keine größere Wichtigkeit als andere derselben Freundin. Es hatte etwas Alltägliches. Häufig erlebte, alltägliche Erlebnisse formieren sich zu einem erinnerten Ganzen, heißt es. In Zusammenhang mit der Nachricht sowie dem Vorgang des Abhörens wurde offenbar keine Dringlichkeit zum Erinnern abgespeichert. Dem gegenüber habe ich ein klares Bild der Situation vor Augen, wie ich kürzlich das Diktiergerät abhörte und die Nachricht entdeckte. 

In wenigen Tagen fahre ich nach Pompeji. In den Büchern lese ich, dass die Stadt viele Jahrhunderte unter meterhohen Sedimentschichten begraben lag – und vergessen. Doch sie wurde, mehr zufällig, wieder entdeckt. Das erste Mal streifte man Gebäude Pompejis um 1600 beim Bau einer Wasserleitung. Aber jegliche zaghaft gesetzte Ideen einer Ausgrabung wurden jäh durch einen erneuten und ungemein stärkeren Vesuvausbruch als jenen von 79 n. Chr. unterbrochen. Neue Schlamm- und Lavaschichten überdeckten die Gegend um Neapel. 1689 wurden dann bei einer Brunnengrabung antike Stücke gesichtet. Den Arbeitern war aufgefallen, dass sich klar abgegrenzte, horizontal übereinander liegende Schichten Lapilli, Asche und Erde abwechselten. Als die vierte Schicht durchgraben wurde, entdeckte man Steine mit der Aufschrift Pompeji. Bei einem weiteren Anlauf einige Jahre später wurden antike Gebäude ausgegraben, doch die Behauptung, es würde sich hierbei um die Stadt Pompeji handeln, wurde von vielen Gelehrten als unwahrscheinlich abgelehnt. Die ausgegrabenen Gebäude zerfielen und alsbald legte sich eine neue Pflanzendecke über sie. Dann, um 1710 herum, fiel einem Bauer beim Brunnengraben antiker Marmor auf. Ein kaiserlicher Offizier erfuhr davon, und, mehr oder weniger geplant, wurde mit Ausgrabungsarbeiten begonnen, zunächst ohne zu wissen, um welche Stücke aus welcher Stadt es sich handeln könnte. Der Vesuv brach erneut und über 20 Jahre regelmäßig aus, sämtliche Ausgrabungsarbeiten wurden eingestellt. 1738 wurde bei erneuten Ausgrabungsarbeiten die Stadt Herculaneum entdeckt. Dadurch angeregt machte man sich gezielt auf die Suche und fand schließlich das Zentrum von Pompeji.

Wenn ich die Nachricht von der Kassette abhöre, so höre ich zunächst Worte, die in ihrer Abfolge Sätze ergeben, denen ich eine Bedeutung zuzuweisen imstande bin. Meine Freundin spricht von einer geplanten Verabredung. Offensichtlich hat sich aber aus den Handlungen Sprechen/Abhören/Treffen kein singulär einschneidendes Erlebnis ergeben, andernfalls hätte ich mich vermutlich auch ohne das Diktiergerät daran erinnert. Vielmehr fanden das Sprechen/Abhören/Treffen in einer Kette mit weiteren Anrufen und Zusammenkünften statt, woraus mitunter einschneidende Erlebnisse hervorgegangen sind. In der Aneinanderreihung von gemeinsamen Erlebnissen hat sich eine Freundschaft ergeben, eingebettet in die damalige Zeit. 

Angekommen. Vor mir sehe ich einen Körper mit angewinkelten Knien und mit erhobenem Rücken, das Gesicht nach oben gerichtet und die Hände zusammengefaltet, auf dem Schoß sitzt ein Kind. Ein paar Meter weiter sehe ich eine auf der Hüfte liegende Person, aufgestützt auf ihrem rechten Arm, den Oberkörper leicht nach oben biegend. Dort ist auch ein hockender Körper mit Knien an der Brust und den Händen vor dem Gesicht. Ich erinnere mich in diesem Moment an das Abhören der Sprachaufnahme meiner Freundin. Das Erinnern daran vollzieht sich einfach und schnell. Durch das Schreiben darüber ist das Ereignis im Gedächtnis weit nach vorn geholt worden. Ich glaube mittlerweile sogar, mich an die Situation erinnern zu können, in der ich damals zum ersten Mal die Nachricht abhörte. Nein, vielmehr glaube ich, mich der räumlichen Umgebung des Anrufbeantworters und meiner Körperhaltung beim täglichen Abhören zu erinnern. Hockend und vornüber gebeugt saß ich früher immer während des Abhörens neu eingetroffener Nachrichten, die sich auf meinem Anrufbeantworter befanden. Ich sehe auch den Abguss zweier Mädchen, die in enger Umstellung beieinander liegen. Der Kopf der einen liegt auf Höhe des Herzens der anderen. Im Abguss sind die Arme der beiden miteinander verwachsen, der Kopf wiederum scheint sich wie ein Stempel auf die andere aufzudrücken. Am Abend zuvor waren wir beide tanzen gewesen. Anschließend hatten wir gemeinsam in ihrem breiten Bett geschlafen. Der Stempel vom Clubtürsteher, der auf unsere Handgelenke angebracht wurde, befand sich nach der Nacht nicht mehr nur am Handgelenk, sondern an Po, Beinen, Füßen, Gesicht. Beim Absuchen der gestempelten Körperstellen versuchten wir später in körperlicher Verrenkung nachzustellen, wie wir wohl gelegen haben mochten: Fuß an Stirn, Bein an Ohr und so weiter.

Wenn die Entdeckerin dieser Sprachnotiz nicht ich, sondern jemand Fremdes wäre, 2.000 Jahre später – was wäre dann die Essenz? Auf dem Band hört man die Stimme einer Frau mit bayerischer Stimmfärbung. Sie möchte sich verabreden und schlägt hierzu einige Details vor. Zeitlich liesse sich die Nachricht insofern einordnen, als dass die Frau von einem Videorecorder spricht, den sie zur Verabredung mitbringen wird. Es handelt sich also vermutlich grob um die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weiterhin wohnen die sprechende Frau sowie die angerufene Person offensichtlich so nah beieinander, dass es keine Umstände macht, sich für den nächsten Tag zu verabreden. Möglicherweise verstünde die Entdeckerin die deutsche Sprache nicht. Würde sie dennoch begreifen, dass es sich um die Übermittlung einer Nachricht handelt? Oder könnte sie die Nachricht auch für einen Song oder aber für eine Sprechprobe einer Schauspielerin halten? Oder aber wäre überhaupt einzig die Kassette und deren Form, Größe oder Materialität interessant? Würde man die Kassette unmittelbar als früher verwendetes Speichermedium wiedererkennen oder zumindest darüber mutmaßen? Und wenn die Kassette ganz abgesehen davon bereits zu Millionen Plastikkörnern zerschabt wäre? Ich suche im Internet nach Konservierungsmethoden von Audiotapes und finde ausschließlich Digitalisierungsvorschläge. Ich möchte die Nachricht in Stein meißeln. 

Bis zu 1 Mio. Jahre sollen sich Steinzeugtafeln mit aufgebranntem keramischen Farbdruck bewähren. Im österreichischen Hallstatt, bekannt durch hohe Salzvorkommen und für die ältesten Salzminen der Welt, gibt es ein Projekt zur Langzeitarchivierung. Das „Memory of Mankind“ steht jedem offen, Texte und Bildmaterialien auf einen Server hochzuladen. Diese werden dann mikroskopisch klein, lesbar mit einer 10-fach Lupe gebrannt. Mittels Steintokens mit eingravierten Koordinaten soll das Archiv auch noch in vielen Jahrtausenden wiederauffindbar sein. Das Unternehmen Lunar Mission One wiederum plant ein Bohrloch auf dem Mond, um darin eine Kapsel mit digitalen historischen und kulturellen Inhalten zu vergraben. Es soll auch physischen Raum in der Kapsel geben, beispielsweise für ein einzelnes Haar. Aufgrund der Bedingungen, die auf dem Mond herrschen, rechnet Lunar Mission One damit, dass die Archiv-Kapsel bis zu 1 Mrd. Jahre halten wird. Derzeit wird auch Glas als Werkstoff zum Speichern von digitalen Dateien getestet, angeblich soll es Temperaturen bis zu 1000 Grad aushalten und 13,8 Mrd. Jahre halten, das dreifache Alter unseres Sonnensystems.

Wo könnte in 2.000 Jahre meine Kassette eigentlich wieder gefunden werden? Wenn sie im Müll landet, wird sie verbrennen und schmelzen. Wenn sie im Erdboden landet und aus irgendeinem Grund mit der Zeit immer weiter in die Tiefe wandert, könnte das Plastik mehrere hundert Jahre intakt bleiben, lese ich. Das Band dagegen, abhängig der Lagerung, hält ungefähr bis zu 30 Jahre. Irgendwann begänne aber auf jeden Fall der Ton zu leiern. Ein Kassettenband besteht aus Magnetpigmenten, Bindemittel, Schmiermittel und einem Kunststoffband. Jedes für sich übersteht Witterungsbedingungen unterschiedlich unbeschadet. Man geht davon aus, dass das Bindemittel die größte Schwachstelle ist. Wenn es sich auflöst, führt das zu schmierigen Bändern, einem ruckartigen Abspielen, Bandsalat. 

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Was habe ich vor dem Abhören gemacht und was danach?Vor meinem inneren Auge bewege ich mich nicht. Ich hocke nur da und höre die Nachricht ab. Ich zwinge mein Ich aufzustehen und zur Tür hinauszugehen. An der Ecke treffe ich meine Freundin. Gemeinsam steigen wir den Vesuv hoch. Ein selten starker Wind schmeisst mit Sand und Erde. Der Wind reißt Bäume aus dem Boden. Wir ducken uns, um darunter durchzusteigen und springen zur Seite, um nicht erschlagen zu werden. Glutheißes Magma aus geschmolzenem Stein strömt uns entgegen. Die Lava hat eine vertikale rote Linie gezeichnet. Neben uns, einzeln verstreut befinden sich Menschen aus Gips. Wir sehen eine Frau auf dem Rücken, ihr Kind sitzt auf ihr, sie spielen. Wir sehen eine Person, die sich aus dem Wasser auf ein rettendes Boot hochzuhieven versucht. Gleich daneben wiederum erblicken wir einen weinenden, Staub abhaltenden und zugleich betenden Menschen. Viele Arme sind Richtung Himmel gestreckt. Sie beten darum, dass ihre Stadt nicht versinkt. Sie alle sind ganz stumm, wie festgefroren. Das einzige, was sich bewegt, ist die Tränenflut meiner Freundin. Sie heult, der Rotz läuft. Sie lehnt sich mit ihrem Kopf an mich, ungefähr dort wo mein Herz ist. Dann nimmt sie mein Kleid und schnäuzt sich kräftig hinein. 

Schluss: Ein Wiederaufbau der Stadt Pompeji war nahezu unmöglich, lese ich. Teile der Stadt wurden noch eine Zeitlang als Steinbruch benutzt, dann begann das Unkraut zu wachsen. In anderen, vollständig verschütteten Teilen wurden Gemüsekulturen auf dem fruchtbaren neuen Boden angelegt. Nach und nach erinnerte nichts mehr an die alte Stadt. Es erschien namentlich bis ins späte Mittelalter noch auf Landkarten aufgrund einer gedankenlosen Übertragung alter römischer Karten. In einem Abstand von hundert Jahren brach der Vesuv noch mehrere Male aus, beruhigte sich dann jedoch regelrecht, der Krater schloss sich, und selbst dort legte sich eine Pflanzendecke ab. Was soll ich nun mit der Kassette machen? Soll ich sie weiterhin in der Kiste aufbewahren, in der sich auch anderes Zeug befindet wie zum Beispiel das eingetrocknete Stück Nabelschnur meines Kindes, das ich nach dessen Geburt aufgehoben habe? Oder soll ich sie, so wie es geplant war, mit Neuem überspielen? Ich könnte aber natürlich auch das Band aus der Kassette ziehen, den Abschnitt mit der Nachricht meiner Freundin herausschneiden, einrollen und in eine Minikapsel aus Metall legen. Die Kapsel würde ich dann auf den Erdboden in der Nähe meines Hauses legen. Ich würde einen langen Stab nehmen und die Kapsel immer tiefer in die Erde drücken. 

Sophie Aigner, 2018