4. Januar 2019

Archäologie der Zukunft

1 Ausstellungsansicht Galerie im Marstall Ahrensburg, 2018. Foto: Felix Krebs
2 „Landschaft unter Aufsicht (Reservat)“, 2018, Inkjet Print, Größe variabel
3 „Landschaft unter Aufsicht (Unland)“, 2018, Inkjet Print, Größe variabel
4 „Landschaft unter Aufsicht (Kulturbrache)“, 2018, Inkjet Print, Größe variabel
5 „Geröllfeld mit Kartoffeln und Gurke“ (Detail), 2018, Yoga-Matten, glasierte Keramik, ca. 420 × 850 cm
6 „Geröllfeld mit Kartoffeln und Gurke“ (Detail), 2018, Yoga-Matten, glasierte Keramik, ca. 420 × 850 cm

Zu Arbeiten von Suse Bauer

Suse Bauers Arbeiten sind von scheinbar widersprüchlichen Themen und Stilformeln geprägt.1 Sie wurzeln in der Abstraktion, operieren mit flächigen Arrangements und nüchterner Ornamentik, Bezügen zur Bauhaus-Moderne und literarischem Zitat, haben aber auch den ausgeprägten Hang zu Bricolage und Handarbeit. Und mittendrin tauchen unvermittelt Dinge des alltäglichen Gebrauchs oder Konsums auf – Gemüse zum Beispiel: Rosenkohl, Kartoffel oder Gurke finden, sparsam dosiert, als naturalistisch kolorierte Keramik in ihren installativen Ensembles Platz. Oder nachgeformte Penne-Pasta, die in kleinen Herden über Bauers Keramik-Reliefs mäandert. So entsteht ein irritierender, für die Bildsprache der Künstlerin jedoch charakteristischer Mix voll überraschender Materialtransfers, in dem utopiegeladenes Moderne-Pathos auf Alltagsgüter und eine DIY-Aura des Handgemachten trifft.

Die Ausstellung in der Galerie im Marstall Ahrensburg versammelte sechs Gemälde, alle Öl oder Ölpastell auf Papier, aus den Jahren 2011 und 2018 sowie die Bodenskulptur Skizze für Reformbeton mit Kupfergeld (2018), vier großformatige Schwarz-Weiß-Scans und – quasi das Epizentrum der Schau – die komplexe Installation Geröllfeld mit Kartoffeln und Gurke (2018) aus blauen Yoga-Matten, die mit zahllosen centgroßen Ausstanzungen versehen und verstreuten Keramik-Objekten besetzt war. An deren Ende schloss sich eine raumhoch aufragende Wand aus rötlich braun gebeizten Holzleisten an, in deren Gitterwerk die Keramik-Reliefs In den Künstlerkolonien (2017), Meine Frauengruppe (2016) und Ausgeschlossen, Wiedereintritt (2018) eingehängt waren. Das im luftigen Raster aus 12 × 18 quadratischen Feldern lose platzierte Arrangement erschien formal verwandt mit Kompositionsprinzipien ihrer Malerei und übersetzte diese in den Raum.

Bauer nannte die Ausstellung „Der Abgrund unter mir heißt Zukunft“ – ein Zitat des Dramatikers und Dichters Heiner Müller (und Titel eines neuen, ebenfalls ausgestellten Gemäldes) aus einem seiner literarischen Traumprotokolle, in dem ein Ich als haltlos schwebendes Sehen aus Vogelperspektive imaginiert wird: „[…] Vielleicht bin ich nur ein Auge, das an einem mir unbekannten Flugkörper befestigt ist, / in der Luft gehalten von einer mir unbekannten Kraft. / […] Eine ausgespannte Netzhaut. / Mein Weg nach oben ist ein Weg in die Vergangenheit, der Abgrund unter mir heißt Zukunft.“ Als Titel hat die Zeile eine eigenwillig poetische Kraft, und auf solcherart semantische Temperierung durch Sprache kommt es Bauer hier wie auch in Werktiteln stets an. Im Kontext verknüpft der Passus aber Blick und vertikale Raumachse auch mit der Linearität historischen Aufstiegs und markiert darin ein antiutopisches Moment von Halt- und Richtungslosigkeit, das dem Fortschrittspathos historischer Avantgarden entgegensteht. Bauer, die bewusst Formsprachen solcher Moderne-Entwürfe in ihre Malerei (und andere Werkformen) einbindet – auch bei ausgestellten Gemälden wie Neue Pläne (2018), Sie gehorcht der Materie, um sie beugen zu können (2011) oder eben Der Abgrund unter mir heißt Zukunft (2018) –, richtet ihre Werke gezielt auf solche Ambivalenzen aus: Einst utopische Gehalte, die zur ornamentalen Hülle zu werden drohen, re-interpretiert die Künstlerin als Leere immerhin von projektiver Kraft und entfaltet daraus eine Art paramodernistischer Bildsprache, in der abstrakte Formen zu „Bedeutungsgefäßen“ (Bauer) für Sinnprojektion werden.

Das im Titel transportierte Sprachbild einer zwischen allem schwebenden, losgelösten, insofern buchstäblich auch abstrakten Vogelperspektive setzte Bauer in der Ausstellung als Spiel mit vertikalen Blickachsen um: So war etwa die Flächigkeit ihrer Malerei, der Keramiken, der Bodeninstallation oder der Betonskulptur auf jene Form von Aufsicht ausgerichtet, die als Wahrnehmungsmodus relativ neu, aber durch Google Maps oder Drohnenaufnahmen heute längst gelernt und internalisiert ist. Am markantesten vermittelte sich dieser Aspekt an den vier großen Scans der Werkgruppe Landschaft unter Aufsicht (2018). Die Motive erinnern an Satellitenfotos oder Luftbilder archäologischer Ausgrabungsstätten, sind aber eben auch abstrakte Bilder. De facto gehen sie auf Reliefs zurück, die Bauer aus frischem Ton modelliert. Die wurden nicht etwa fotografiert, sondern per Scanner abgetastet, der dafür kopfüber auf einem jeweiligen Relief platziert wurde. Das Verfahren führt neben spezifischen Verfremdungseffekten auch dazu, dass nah am Scannerglas liegende Bereiche äußerst scharf, knapp tiefer liegende aber etwas unscharf erscheinen – ein spezifischer Bildraum, der sich dann insbesondere in der Präsentationsform des extrem vergrößerten Prints eindrucksvoll entfaltet. Motivisch fügen sich darin handgeknetete, gestanzte oder ausgeschnittene Fragmente zu archaischen Ensembles oder wie in Landschaft unter Aufsicht (Reservat) (2018) zu mit Wasser befüllten und, je nach imaginiertem Maßstab, brunnen- oder seenartigen Plateaus. Die Formen entwickelt Bauer direkt unter dem Scanner. Dabei prüft sie vorläufige Resultate immer wieder mit Probescans, bevor das eigentliche Bild entsteht. Ihr gehe es dabei „um verschiedene Zustände einer Bildidee, ein Original gibt es nicht.“ So birgt hier der Blick von oben die Utopie von Zukunftsarchäologie und führt zu Abstraktionen von großer, fremd vertrauter Schönheit.

Jens Asthoff

 

1Der Text ist die erstmals veröffentlichte deutsche Originalfassung eines Artikels in Artforum International, New York [September 2018, S.305–306] zu Suse Bauers Ausstellung „Der Abgrund unter mir heißt Zukunft“ in der Galerie im Marstall Ahrensburg, 15. April – 27. Mai 2018. Suse Bauer wird vertreten von der Galerie Conradi, Hamburg.