4. Februar 2004

Liberalen-Akquisition

 

Würde man von diesem Buch zunächst nur die Widmung zur Kenntnis nehmen – „Den Sozialisten in allen Parteien“ –, wüsste man schon eine ganze Menge über den Autor und seine politische Einstellung. Würde er es den Sozialisten aller Länder empfohlen haben, hätte er ein anderes Buch schreiben müssen, und genau gegen solche Bücher, eben sozialistische, richtet sich Hayeks Adressschrift eines überzeugten Liberalen.

Mit dem Liberalismus sah es 1944 in Europa gar nicht gut aus. Als Deutscher ist man vielleicht geneigt zu denken, dass dieses Urteil nur bedingt, wenn überhaupt, auch für England zutrifft. Hayek, der die Kriegsjahre in England verbrachte, wo dieses Buch auch zunächst in englischer Sprache Anfang 1944 erschien, möchte den geneigten Leser eines Besseren belehren. Er wird nicht müde zu betonen, dass auch in England der Freiheitsgedanke sich längst von seinem liberaltheoretischen Ursprung und Umfeld gelöst habe, um sich im Sozialismus vor allem deutscher Prägung (was nach Hayek weniger den utopischen und wissenschaftlichen, als vielmehr den nationalen Sozialismus meint) reinkarniert zu haben. Im Gegensatz zu vielen bekennenden englischen Sozialisten weist der Autor darauf hin, dass der Nationalsozialismus nicht nur dem Namen nach eben auch ein Sozialismus sei, sondern de facto.

Was er dem Sozialismus insgesamt vorwirft, wird schnell klar: Ein auf Planwirtschaft beruhendes sozialistisches Staatswesen ist mit der Aufrechterhaltung menschlicher Freiheit unvereinbar. Das Fatale am Sozialismus sei, dass er, konsequent durchdacht, gar nicht anders könne, als jedem einzelnen Subjekt den ihm „gehörigen“ Platz in der Gesellschaft anzuweisen, den es sich also nicht durch Eigeninitiative, wie in der sozialen Marktwirtschaft, jedenfalls der Theorie nach, erkämpfen könne. Der Sozialismus ist eine politisch-wirtschaftliche „top-down“-Technik, die erste und letzte Entscheidung fällt immer der Staat, die herrschende Klasse oder die führende Partei.

Für Hayek ergibt sich daraus, dass es alles andere als provozierend ist, darauf aufmerksam zu machen, dass der Nationalsozialismus dem Sozialismus so ziemlich alles verdankt und dass es zum Beispiel kaum eine Stelle in Hitlers „Mein Kampf“ gebe, die nicht auch schon von einem überzeugten englischen Sozialisten vertreten worden wäre. Wenn „die bewusste Organisierung der Arbeit in einem Gesellschaftssystem zu einem bestimmten Zweck“ die Formel kollektivistischer Systeme ist, dann fallen ideologische Sekundärrechtfertigungen um so mehr ins Auge, als sie dem unvoreingenommenen Betrachter Sand in die Augen streuen wollen. „Es kommt ziemlich auf dasselbe hinaus, ob die Relativitätstheorie als ein ,semitischer Angriff auf die Grundlagen der christlichen und nordischen Physik’ hingestellt oder deshalb bekämpft wird, weil sie sich ,im Widerspruch zum dialektischen Materialismus und zur marxistischen Lehre’ befinde“.

Aus Hayeks Sichtweise völlig korrekt, aus der aber etwa des betroffenen, politisch  korrekten, also mindestens linksliberal eingestellten Exilforschers doch als ziemlich heftig, womöglich auch skandalös zu beurteilen, heißt es bei Hayek: „Wir sollten niemals vergessen, dass durch den Hitlerschen Antisemitismus viele aus Deutschland vertrieben worden oder zu seinen Feinden geworden sind, die in jeder Beziehung überzeugte Totalitäre der deutschen Spielart sind.“ Heute ist der Liberalismus selbst, jedenfalls in seiner historisch jüngsten Spielart, dem sich der Globalisierung bedienenden Ultraliberalismus (so die Sichtweise V. Forresters), ins Gerede gekommen. Die Diktatur des spekulativen Kapitals. So hatte sich das der ehrenwerte Hayek wohl nicht vorgestellt. Dass aber „Umverteilung“ als solche noch kein sich von selbst verstehendes gerechtes Konzept ist, darauf hat schon Hayek hingewiesen. Und die Alternative? Für einen dann nicht mehr nationalen, sondern globalen Sozialismus?

 

Dieter Wenk

 

Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1994 (The road to serfdom, 1944)