18. November 2018

Libre pour rien

 

Sartres „Zeit der Reife“

 

L’Âge de raison, das Zeitalter der Vernunft oder Reifeein Buch mit so einem Titel hätte bei meiner Oma stehen können. Dass es von Sartre stammt, macht die Sache kaum besser: Im Café de Flore über Aprikosencocktails zu philosophieren, ist Nostalgie pur, eine Angelegenheit der Reiseführer und Literaturtouristen – dieses Paris existiert nicht mehr. Dabei ist der Auftakt zu Les chemins de la liberté im Grunde ein postheroischer Roman, wenn man die Folgebände des Romanzyklus einmal versuchsweise auslässt. Sartres Intention wäre das sicher zuwider, so wie ihm dieser erste Band überhaupt zuwider war, der im Rahmen des Gesamtwerks nur ein Vorspiel auf dem Weg zu einer geschichtsbezogenen Existenz sein sollte, um die Zeit der Reife im Rückblick als eine der Unreife zu enttarnen. In dem Romanzyklus beschreibt Sartre seine Wandlung von einem egoistischen Vorkriegsindividualisten „Stendhalscher Prägung“[1](dafür stünde Mathieu Delarue) bis hin zu einem gesellschaftlichen Wesen (wie der Kommunist Brunet). Das zumindest ist die gängige Lesart. Aber welche ernsthafte Leserin interessiert sich schon für die Absichten eines Autors? Man kann der Literatur keine message injizieren: „Jede These, die in einem Roman triumphiert, hört sofort auf, wahr zu sein“ (Maurice Blanchot)[2]. Nun ist es jedoch nicht so gewesen, dass Sartre vorab wusste, was er schreiben und wohin ihn sein Vorhaben führen würde; er wollte lediglich verschiedene Formen der Freiheit vorstellen und deren Praktizierbarkeit in engster Verknüpfung an das Zeitgeschehen erproben.[3]

Man kann die Wege der Freiheit folglich als literaturhistorisches Dokument einer bestimmten Epoche lesen, in der sich Sartre mit dem Kommunismus auseinandersetzt und allgemeine Fragen nach dem Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft mithilfe unterschiedlich positionierter Romanfiguren diskutiert. Wem das zu abgedroschen ist, dem bleibt noch der ganze Rest: Eine mit Philosophie angereicherte „erzählerische Seelenwanderung“ (Blanchot), eine Art Himmel über Paris, bei der man sich in die jeweilige Gedankenwelt der einzelnen Figuren verstrickt. Wer einmal von dieser Art Situationsroman ohne inneren Erzähler oder allwissenden Zeugen, in dem keines der dargestellten Bewusstseine den Ereignissen oder sich selbst gegenüber einen privilegierten Standpunkt einnehmen soll (wie Sartre in Was ist Literatur? formulierte[4]), wer also von diesem trockenen, unvermittelten, pseudo-realistischen Schreibstil angetan ist, der oder die wird mit Mathieu, Daniel, Boris und Brunet auch in den Krieg ziehen und ihre dortigen Verwandlungen miterleben wollen. Denn Sartres Figuren sind ohne Innerlichkeit und ohne Programm, von denen man, wie Bernhard-Henri Levy schreibt, nie zuvor weiß, was sie sind, bevor sie nicht gehandelt haben: als freie Künstler ihres Selbst improvisieren unablässig ihr Sein.[5]

Aber tun wir das nicht auch? Sind wir nicht im Grunde diejenigen, die jenem individualistischen Freiheitskonzept viel mehr anhängen, als man Sartre immer nachsagt, obwohl er es am Ende seines Lebens ziemlich eingekocht hat?[6]Wenn der Existentialismus in Vergessenheit geraten ist, dann deswegen, weil wir ganz selbstverständlich aus ihm heraus leben: ob mit oder ohne Rollkragenpullover, Existentialisten, das sind wir doch alle, die wir uns ständig entscheiden, unsere choix originel für oder gegen die Elternschaft, einen neuen Job oder Partner treffen müssen und dadurch erst definierenwählenentwerfen. Mag sein, dass wir mit kommunistischen Experimenten um einiges vorsichtiger geworden sind. Aber was ist unsere erlernte Illusionslosigkeit (idealistischen Großprojekten gegenüber) anderes, als die Leere der Freiheit, die hier von den Figuren bis zur Unerträglichkeit durchlebt wird? Ob der zweiflerische Philosophielehrer Mathieu (Sartre selbst, außer seiner Berufung zum Schreiben[7]), die schwangere Marcelle, Daniel, der inverti maudit, die gealterte, drogensüchtige Sängerin Lola, das exzentrische Geschwisterpaar Boris und Ivich oder der militante Kommunist Brunet, jeder nutzt die Freiheit auf seine eigene Art und Weise – und wer könnte sich anmaßen, darüber zu urteilen, welcher Entwurf dieser traurigen Gestalten nun letztlich der bessere wäre? Dazu müsste man wissen, wohin alle sich wahllos aneinanderreihenden Begebenheiten unseres Lebens am Ende führen werden.

Wissen wir aber nicht. Insofern befinden wir uns heute in einer ähnlichen „Verdreckung“, in der sich Sartre zum damaligen Zeitpunkt der Niederschrift (während der trügerischen Windstille der Jahre 1937/38) wähnte – nur dass wir in einer globalisierten Welt sicherlich nicht mehr die Illusion einer nach außen hin völlig abgeschlossenen, individuellen Geschichte haben, wie Sartre im Ankündigungstext noch schreiben konnte.[8]

L’âge de raison – ein aktueller Roman? Das sind nur Eindrücke, Suggestionen, Scheinevidenzen: Zeit der Reife mit heute zu vergleichen ist letztlich unsinnig. Unsinnig, da der Roman ja gerade als Zeugnis der stagnierenden französischen Gesellschaft während der Zwischenkriegsjahre gilt[9]und das heutige Gefühl der Leere wohl eher mit dem Ideal der Selbstverwirklichung zusammenhängt, das sich zur Ideologie und Produktivkraft eines deregulierten Wirtschaftssystem entwickelt hat.[10]

Die einzige Parallele, die sich zur heutigen Generation finden lässt, beschränkt sich auf die latente Unzufriedenheit in den gebildeten, kosmopolitischen Großstadtmilieus, kümmerliche Reste metaphysischen Zweifels angesichts einer multioptionalen Gesellschaft, in der man sich jederzeit offen für andere Lebensentwürfe hält. An einer Stelle heißt es zum Beispiel über Mathieu:  

 

„(...) er litt unter der uralten eintönigen Empfindung des Alltäglichen: umsonst wiederholte er sich die Sätze, die ihn früher begeisterten: ‚Frei sein. Sein eigener Seinsgrund sein, sagen können: ich bin, weil ich es will; mein eigener Anfang sein.‘ Das waren leere, schwülstige Worte, aufreizende Worte eines Intellektuellen. 

Er stand auf. Ein Beamter stand auf, ein Beamter, der Geldsorgen hatte und der gleich die Schwester eines seiner ehemaligen Schüler treffen würde. Er dachte: ‚Sind die Würfel gefallen? Bin ich nur noch ein Beamter?‘ Er hatte so lange gewartet; die letzten Jahre waren nur eine Ruhe vor dem Sturm gewesen. Er wartete durch tausend alltägliche kleine Sorgen hindurch; natürlich lief er unterdessen den Frauen nach, er reiste, und dann mußte er schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber bei alldem war sein einziges Anliegen gewesen, verfügbar zu bleiben.“[11]

 

Aber selbst in Bezug auf dieses Verfügbar-Halten gibt es einen Unterschied zu den heutigen Mittdreißigern, die, wie Nina Pauer in einem Zeit-Artikel über Familienplanung bemerkt, auf den Begriff des Schicksals sozialisatorisch gar nicht vorbereitet sind.[12]Mathieu hält sich verfügbar, aber für einen Akt: „Einen freien und überlegten Akt, der sein ganzes Leben beanspruchen und am Beginn einer neuen Existenz stehen sollte.“ An anderer Stelle heißt es: „Alles, was ich tue, tue ich für nichts; man könnte meinen, die Folgen meiner Taten würden mir gestohlen; alles verläuft so, als könnte ich meine Züge immer wieder zurücknehmen. Ich weiß nicht, was ich dafür geben würde, eine unwiderrufliche Tat zu begehen.“ (S. 321)

Was meint Mathieu mit einer „unwiderruflichen Tat“? Etwas, das seine Freiheit bindet? Aber er hat doch gerade erst erfahren, dass er Vater wird. Eine Familie zu gründen, eine Ehe zu schließen, was bei einer Schwangerschaft damals geboten war – „Wenn man unverheiratet ist“, geht es Marcelle durch den Kopf, „ist eine Schwangerschaft genauso eine Schweinerei wie ein Tripper“ (S. 76) –, kommt für ihn, so sehr ihn die Umstände auch dazu drängen, nicht in Betracht. Er sucht eher nach etwas, das ihn augenblicklich, eruptiv, wie der berühmte Sprung von Ulrike Meinhof[13], aus seiner abstrakten, durch tausend reflexive Schleifen laufenden Existenz befreit: einen coup d’Etat existentiel.[14]Zu Brunet sagt er: „Ich habe nichts zu verteidigen: ich bin nicht stolz auf mein Leben und habe keinen Sou. Meine Freiheit? Sie belastet mich: seit Jahren bin ich für nichts und wieder nichts frei. Ich hätte größere Lust, sie ein für allemal gegen eine Gewißheit einzutauschen. Nichts wäre mir lieber, als mit euch zu arbeiten, das würde mich von mir ablenken, ich muß mich ein bißchen vergessen. Und außerdem denke ich wie du, daß man kein Mensch ist, solange man nichts gefunden hat, wofür man bereit wäre zu sterben.“ (S. 130) Aber Mathieu kann nicht einfach in die Kommunistische Partei eintreten, das wäre eine Geste der Unaufrichtigkeit, „weil er den Effekt wählen würde, ohne das Motiv zu wollen.“[15]„Ihr seid alle gleich, ihr Intellektuellen“, antwortet Brunet ungeduldig, „alles kracht zusammen, alles fliegt in die Luft, die Gewehre gehen von selber los, und ihr fordert in aller Ruhe das Recht, überzeugt zu sein.“ So bleibt Mathieu weiterhin frei, frei für nichts, libre pour rien – eine Klage, die sich durch den ganzen Roman zieht. Er ekelt sich selbst an, seine Alltagssorgen ekeln ihn an. Nachdem er in der Zeitung von den Luftangriffen auf Valencia erfahren hat, fragt er sich: „Warum bin ich in dieser ekelerregenden Welt des Anpumpens, der chirurgischen Instrumente, des heimlichen Knutschens in Taxis, in dieser Welt ohne Spanien? Warum bin ich nicht mit von der Partie, mit Gomez, mit Brunet?“ (S. 120) 

L’âge de raison ist, wie Contat schreibt, Alltagskritik in Romanform. „Die Figuren sind sehr individuell, aber in keiner Weise außergewöhnlich – wie etwa jene von Malraux –, und das, was sie umtreibt, ist es ebenso wenig: Geldsorgen, eine unerwartete Schwangerschaft, komplizierte Liebesbeziehungen, eine geplante Abtreibung, flatterhaftes Verhalten. Nichts als Banalitäten, selbst für diese Zeit. Aber durch die Gnade der Literatur bekommt das jeder Größe entbehrende Dasein der Figuren eine Tragweite, eine Präsenz, eine Intensität, die es hervorhebt, ohne dass es dadurch weniger gewöhnlich wäre: Es ist so wie unser eigenes, insofern uns die leicht schizoide Abspaltung für einen Moment, für die Zeitspanne eines kurzen Wachtraums ein anderes Leben – anstatt es zu leben – vorstellen und zu Romanfiguren werden lässt.“[16]

Die Kunst hebt das geltende Realitätsprinzip auf, indem sie ihm ihre eigene „schöne“ Form, Harmonie, Dissonanz und Rhythmik verleiht und der Alltagswelt so einen erhellenden, übersteigenden Sinn gibt. Contat weist darauf hin, dass Sartre und de Beauvoir schon immer dazu geneigt haben, ihr Umfeld durch den Schleier ihrer Lektüren zu betrachten und die Wirklichkeit zu ästhetisieren: Außer Marcelle, Lola und Odette liegen allen Romanfiguren echte Vorbilder aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zugrunde.[17]Bei Sartre reicht diese Gewohntheit sogar in die Kinderzeit zurück: „Wir“ – das heißt seine Mutter und er – „gewöhnten uns an das Erzählen der kleinsten Ereignisse unseres Lebens im Romanstil, und zwar im Augenblick des Geschehens selbst; wir sprachen von uns in der dritten Person des Plurals. Wir warteten auf den Autobus, er fuhr vorbei, ohne anzuhalten, worauf einer von uns ausrief: ‚Sie stampften mit dem Fuß auf und fluchten dem Himmel‘, und wir lachten.“[18]

In Der Ekel hat Sartre diesen erzählerischen Effekt genauer untersucht: 

 

„Wenn man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Es gibt nie Anfänge. Ein Tag folgt dem anderen, ohne Sinn und Verstand, ein unaufhörliches, eintöniges Aneinanderreihen. (...) Das heißt leben. Aber wenn man das Leben erzählt, verändert sich alles; bloß ist es eine Veränderung, die niemand bemerkt: der Beweis ist, daß man von wahren Geschichten spricht. Als ob es wahre Geschichten geben könnte; die Ereignisse entwickeln in einer Richtung, und wir erzählen sie in umgekehrter Richtung. Man tut so, als finge man mit dem Anfang an: ‚Es war ein schönem Abend im Herbst 1922. Ich war Schreiber bei einem Notar in Marommes.‘ Und in Wirklichkeit hat man mit dem Ende angefangen. Es ist da, unsichtbar und gegenwärtig, es ist das Ende, das diesen wenigen Worten den Pomp und den Wert eines Anfangs verleiht. ‚Ich ging spazieren, ich war aus dem Dorf gegangen, ohne es zu bemerken, ich dachte an meine Geldsorgen.‘ Dieser Satz, einfach als das aufgefaßt, was er ist, will sagen, daß der Typ gedankenverloren, verdrießlich, meilenweit von einem Abenteuer entfernt war, genau in jener Stimmung, in der man die Ereignisse unbeachtet verstreichen läßt. Aber das Ende ist da, das alles verwandelt. Für uns ist der Typ schon der Held der Geschichte. Seine Verdrießlichkeit, seine Geldsorgen sind viel kostbarer als unsere eigenen, sie sind ganz vergoldetet vom Licht künftiger Leidenschaften. Und die Erzählung geht verkehrt herum weiter: die Augenblicke stapeln sich nicht länger auf gut Glück übereinander, sie werden vom Ende der Geschichte weggeschnappt, das sie ansaugt, und jeder von ihnen saugt seinerseits den vorangehenden Augenblick an“[19].

 

Auch Sartre hat beim Schreiben mit dem Ende angefangen: Den Roman, der an drei Tagen im Juni 1938 spielt, beendet er im Jahr 1941. In der Zwischenzeit, während des drôle de guerre[20], hat er „eine beträchtliche philosophische Entwicklung durchgemacht, die ihn von einer individualistischen Moral und einer abstrakt anarchistischen Position zu einem Denken der Geschichtlichkeit geführt hat, das er in einem inneren Dialog mit Heidegger angesichts der Evidenz herausbildet, daß der Krieg nicht nur sein eigenes Verhältnis zur Welt verändert, sondern auch die gesamte Erfahrung seiner Generation mit einem radikal anderen Sinn durchdrungen hat.“[21]Wie sollte er da noch einen situiertenRoman schreiben können, wenn situiert bedeutet: Personen in ihrer unmittelbaren geschichtlichen Situation zu zeigen? Selbst zum damaligen Zeitpunkt, im Jahr 1945, als L’âge de raison und Le Sursis zeitgleich bei Gallimard erschienen, hat Blanchot bemerkt, dass die Erzählung eine Entwicklung auf etwas hin ahnen lässt (auf ein Ziel, auf eine Moral, auf einen endgültigen Sinn hin); ebenso, dass sie insgesamt vom Gesichtspunkt Mathieus aus geschrieben ist: „Denn von diesem versteckten Ich her, das sich überall in den Dingen und Wesen auflöst, entwickelt sie ihre Perspektiven und enthüllt sie ihre Erleuchtungen.“[22]Erleuchtungen? Diese Erleuchtungen sind eher bittere Erkenntnisse, die im Feuer eines lodernden Selbsthasses geschmiedet wurden. In diesem heißen Juni hat Sartre die Sonne durch ein Richterauge ersetzt, unter dessen unerbittlichen Blick die Romanfiguren verwelken: außer Brunet haben sie alle Kopf- oder Augenschmerzen, werden geblendet, können kaum sehen. Wollte Sartre seinen Kritikern zuvorkommen? Im Ankündigungstext schreibt er: „Ich bitte darum, meine Personen nicht nach den ersten beiden Bänden zu beurteilen, von denen der erste die französische Stagnation der Zwischenkriegsjahre zu beschreiben versucht und der zweite die Ratlosigkeit wiedergeben will, die die Leute im Augenblick des grotesken Aufschubs von München überkam. Viele meiner Geschöpfe, selbst diejenigen, die gegenwärtig am feigsten zu sein scheinen, werden später Heldenmut beweisen, und es handelt sich tatsächlich um einen Heldenroman, den ich schreiben will. Aber im Unterschied von unseren Konformisten glaube ich nicht, daß Heldenmut einfach ist.“[23]

Frei sein, aber wozu? – diese Frage kann gar nicht altern. Das Vokabular hat sich inzwischen verändert, zur Freiheit verurteilt zu sein, das würden wir so nicht mehr sagen, das wäre zu tragisch, zu heroisch, in dieser Hinsicht sind wir tatsächlich um einiges unfreier als zu Zeiten der Résistance, in der sich die Frage der Wahl in vereinfachter, aber extremer Form stellte: Widerstand leisten oder kollaborieren, unter Folter reden oder nicht reden, als Held sterben oder als Verräter weiterleben?[24]Frei sein, aber wozu? In unsere Zeit übersetzt: Wir alle stehen unter dem Druck, unser Leben führen und die richtigen Entscheidungen für die eigene Selbstgestaltung treffen zu müssen. Doch auch bei der ersehnten Selbstverwirklichung ist der Tod die Anti-Utopie schlechthin: „Über alle Wahlen ist das melancholische Bewußtsein verhängt, daß es angesichts einer endlich bemessenen Lebenszeit für Revisionen zu spät sein könnte.“[25]„Wenn ich heute sterben würde“, denkt Mathieu einmal, „würde niemand erfahren, ob ich erledigt war oder noch Chancen hatte, meinen Arsch zu retten.“

 

M. A. Sieber

 


[1]Jean-Paul Sartre: „Sartre über Sartre (1969). Interview mit new left review“, in: Sartre über Sartre. Aufsätze und Interviews 1940–1976. Autobiographische Schriften Band 2. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 163–187, hier: 164. 

[2]„Maurice Blanchot über den Romanzyklus Die Wege der Freiheit“, in: Beiheft zu Jean-Paul Sartre: Gesammelte Werke Bd. 2. Romane und Erzählungen. S. 13–19, hier: 19. Ganz ähnlich äußert sich Adorno in einem Aufsatz über Thomas Mann: Der Gehalt eines Kunstwerks beginnt genau dort, „wo die Intention des Autors aufhört; sie erlischt im Gehalt.“ (Theodor W. Adorno, „Zu einem Porträt Thomas Manns“, in: ders., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Band 11. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 335–344, hier: 336.) 

[3]Vgl. Susanne Möbuß: Sartre. Freiburg im Breisgau 2000. S. 101. 

[4]Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Herausgegeben, neu übersetzt und mit einem Nachwort von Traugott König. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 173.

[5]Vgl. Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. München 2005, S. 69.

[6]„Heute würde ich den Begriff der Freiheit folgendermaßen definieren: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.“ (Jean-Paul Sartre: „Sartre über Sartre (1969). Interview mit new left review“, in: Sartre über Sartre a.a.O., S. 165)

[7]„In L’âge de raison habe ich Mathieu alles von mir gegeben – ich spreche nicht von den Fakten seines Lebens, sondern von seinem Charakter – außer dem Wesentlichen, nämlich, daß ich lebte, um zu schreiben.“ (Jean-Paul Sartre zit. n. Michel Contat: „Nachwort zum gesamten Romanzyklus Die Wege der Freiheit“, in: Jean-Paul Sartre: Die letzte Chance. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 175-210, hier: 207)

[8]Jean-Paul Sartre: „Ankündigungstext zum Romanzyklus Die Wege der Freiheit“, in: Beiheft zu Jean-Paul Sartre a.a.O., S. 10-13, hier: 12. 

[9]„Mathieu und sein kleiner Bekanntenkreis veranschaulichen metonymisch die Stagnation Frankreichs gegen Ende der 1930er Jahre: ihre Abulie, ihre Unentschlossenheit, ihre Feigheit, ihr Ausweichen, ihre Unaufrichtigkeit, ihre vergebliche Luzidität, ihre Art, sich an den Augenblick zu klammern und dem Lauf der Dinge anheimzugeben, nur darum bemüht, ihren Komfort und ihre Unabhängigkeit zu wahren, all das, was sich auf privater Ebene abspielt, findet sich auf der staatsbürgerlichen und politischen Ebene in der Kapitulation wieder, die bis zum Münchener Abkommen führt, bei dem Frankreich und England Hitler nachgeben.“ (Michel Contat: „L’Âge de raison. Notice“, in: Jean-Paul Sartre: Oeuvres romanesquesÉd. établiepar Michel Contat et Michel Rybalka avec la collaborationde Geneviève Idt et de Georg H. Bauer [Bibliothèque de la Pléiade]. Paris 1981, S. 1886-1894, hier:1888, eigene Übersetzung)

[10]„Es mag sein, dass wir mit dem Umschlag des Ideals der Selbstverwirklichung in ein Zwangsverhältnis die geschichtliche Schwelle erreicht haben, an der das Erlebnis jener Leere zur Erfahrung eines wachsenden Teils der Bevölkerung geworden ist: von allen Seiten dazu angehalten, sich offen für die psychischen Impulse einer authentischen Selbstfindung zu zeigen, bleibt den Subjekten nur die Alternative zwischen vorgespielter Authentizität oder Flucht in die depressive Erkrankung, zwischen aus strategischen Gründen inszenierter Originalität und krankhafter Verstummung.“ (Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Herausgegeben. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch. Berlin 2010, S. 63-80, hier: 77 f.)

[11]Jean-Paul Sartre: Zeit der Reife. Roman. Die Wege der Freiheit Band 1. Deutsch von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 56 f.

[12]Dass es so etwas wie Determinismus im Leben überhaupt geben könnte, Weichen, die sich nicht beliebig umstellen lassen, darauf war anscheinend niemand vorbereitet.“ (Nina Pauer: „Ihr wolltet es so“, in: Die ZeitNr. 15 (6. April 2017)) Wenn das mehr als ein bloßes Aperçu wäre, würde es auch erklären, warum Orna Donath in Regretting Motherhood ausdrücklich auf die Reue Bezug nimmt und nicht auf die ambivalenten Gefühle, die alle Mütter kennen. „Wenn Sie heute, mit Ihrem heutigen Wissen und Ihren Erfahrungen, die Zeit noch einmal zurückdrehen könnten, würden Sie dann noch einmal Kinder haben wollen?“ Die Mütter, die Donath für ihre Studie auswählte, haben darauf mit „Nein“ geantwortet. Die Frageform behandelt selbst die Vergangenheit als Bereich der Möglichkeit, als etwas, das noch zu ändern wäre, im Grunde also als etwas Zukünftiges.

[13]Inwieweit die RAF-Generation geprägt war von dem, was in den fünfziger und sechziger Jahren als „Existenzialismus“ rezipiert worden ist, kann ich nicht sagen. Ein interessanter Hinweis findet sich jedoch bei Michael Rutschky: „In der jüngsten Generation seiner Praktiker scheint der Terror vollkommen den Status einer politischen Strategie verloren zu haben; er scheint zu einer Existenzform geworden zu sein, die auf Rechtfertigungen verzichtet, die nur noch gelebt werden kann – eine späte, unerwartete, gräßliche Verwirklichung dessen, was in den fünfziger und sechziger Jahren als ‚Existenzialismus‘ rezipiert worden ist: das ‚absurde‘ Leben nicht mit einem Sinn belehnen, sondern es in jeder seiner Einzelheiten empfinden, und weil es keinen integrierenden Sinn gibt, weil alles andauernd vom Tode bedroht ist, deshalb treten die Einzelheiten auch erst deutlich hervor. Am deutlichsten aber in ‚Grenzsituationen‘. Christian Klar und die anderen sollen wenige Tage vor der Ermordung Schleyers in einem Elsässer Restaurant gesehen worden sein, wie sie ruhig und ausführlich zu Abend aßen. So haben sie etwas Alltägliches, Triviales, eine Mahlzeit zu einem Akt gemacht, der nur unter Lebensgefahr vollzogen werden kann; denn in jedem Augenblick hätten Polizisten hereinstürmen und das Feuergefecht eröffnen können.“ (Michael Rutschky: „Lauter Diskontinuitäten. Über Schriften zum Terrorismus“, in: Merkur32 (1978) H. 357, S. 187-194, hier: 188)

[14]Ein solches Erlebnis hatte Mathieu früher einmal, als er als Kind bei seinem Onkel eine dreitausend Jahre alte Vase ohne jeden Grund aufs Parkett fallen ließ und sich danach stolz, von der Welt befreit und bindungslos fühlte, „ohne Familie, ohne Herkunft, eine eigensinnige kleine Erhöhung, die die Erdkruste durchbrochen hatte.“ (S. 55)

[15]Möbuß: Sartre, S. 90. 

[16]Contat: L’Âge de raison. Notice a.a.O., S.1886, eigene Übersetzung.

[17]Vgl. a.a.O., S. 1887 u. 1893. 

[18]Jean-Paul Sartre: Die Wörter. Übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 124.

[19]Jean-Paul Sartre: Der Ekel. Roman. Gesammelte Werke Band 1. Herausgegeben von Traugott König. Deutsch von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 51.

[20]So nennt man die erste Kriegsphase vom September 1939 bis zum Mai 1940, in der die französische Armee Deutschland nicht angreift, was es Hitler erlaubt, Polen, Dänemark und Norwegen zu besetzen, ohne einen Zweifrontenkrieg führen zu müssen.

[21]Contat: Nachwort zum gesamten Romanzyklus Die Wege der Freiheit a.a.O., S. 184. 

[22]Blanchot über den Romanzyklus Die Wege der Freiheit a.a.O., S. 16. 

[23]Sartre: Ankündigungstext zum Romanzyklus Die Wege der Freiheit a.a.O., S. 12 f.

[24]Vgl. Jean-Paul Sartre: „Die Republik des Schweigens“, in: ders.: Paris unter der Besatzung. Deutsch von Hanns Grössel. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 37-38. Dort lautet der erste Satz: „Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung.“

[25]Gerhard Gamm, „Die Vertiefung des Selbst oder das Ende der Dialektik“, in: Identität Leiblichkeit Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Herausgegeben von Annette Barkhaus, Matthias Mayer u.a., Frankfurt am Main 1996, S. 341-357, hier: 345.