Das Weihnachtsohr
»Schön, dass wir alle heute sitzen zusammen«, verkündete Jolanta mit gefülltem Weinbrandglas in der linken und fast aufgerauchter Zigarette in der rechten Hand.
»Mama, du aschst gleich auf den Tisch«, bemerkte Iza.
Der ovale Eichentisch, der mitten im Saal des Vereinsheims stand und üblicherweise als Stammtisch der »Alten Herren« und für den Kleingärtner-Frühschoppen diente, der sich allsonntäglich vormittags zum gepflegten Einstiegsbesäufnis zusammenfand, war übersät mit Essen und mit kitschigem Weihnachtsschnickschnack dekoriert. Acht Stunden zuvor hatte Heinzi (Kleingärtner) noch seine Frau um diesen Tisch gejagt und sie dann quer durch das Vereinsheim geprügelt, da diese unvermutet aufgetaucht war und ihn kreischend aufgefordert hatte, sich nicht schon am Vormittag hemmungslos zu betrinken. Da Heinzis guter Ruf vor Manni (Kleingärtner), Günther (Kleingärtner) und Kai-Uwe (Platzwart) nicht Schaden nehmen durfte, musste seine Frau des Hauses verwiesen werden.
»Was ist Schatzi?«, säuselte Jolanta zu Helmut. »Hab heute kein schlechte Laune, ist Weihnachten.«
Der dicke Helmut grummelte in sich hinein, wobei nie zu erkennen war, ob er dadurch Zufriedenheit oder Missfallen ausdrücken wollte. Der Großteil der Anwesenden tippte auf zweites. Helmuts Sohn Mathias war heute nicht dabei. Er hatte sich kürzlich ungefragt aus der Vereinskasse bedient, was ein Zerwürfnis mit dem Vater nach sich gezogen hatte.
Der strategisch neben der Theke platzierte Merkur-Münzspielautomat piepte und das in regelmäßigen Abständen, obwohl ihn niemand bediente.Helmut zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug; ein asthmatischer Hustenanfall folgte. Jolanta blickte angetrunken drein. Iza schaute nervös zu ihrem Bruder Piotr. Beide befürchteten, dass die weihnachtliche Stimmung so schnell kippen konnte, wie die Kleingärtner die Kurzen. Um die Lage zu entspannen, wandte sich Iza einnehmend an ihren brummig dahockenden Stiefvater.
»Helmut, du siehst aber wirklich gut und zufrieden heute aus.«
Der fette Sack sah weder gut noch zufrieden aus. Seinem verbitterten aufgedunsenen Gesicht sah man an, dass er schon seit Ewigkeiten keinen wirklichen Gedanken mehr gehabt hatte, der sich außerhalb seines Alltags bewegte.
Helmut grummelte, rang sich aber für Iza ein listiges anzügliches Lächeln ab.
»Wir jetzt essen, sonst wird kalt!«, verkündete Jolanta und knallte ihr geleertes Glas auf den Tisch.
Alle warteten bis Helmuts Teller voll war, erst dann griffen wir Übrigen zu. Der dicke Helmut war ein Trümmerkind und litt seit den Nachkriegsjahren an Futterneid. Bei einem anderen Familienessen hatte ich mir arglos die letzte Entenkeule genommen; Helmut hätte mich beinahe mit einem Messer angegriffen, wäre Piotr nicht dazwischen gegangen.
Wir aßen und schwiegen. Draußen in der Ferne hörte man Polizei- oder Krankenwagensirenen aufheulen. Der harmonischste Moment des Abends. Jolanta schenkte nach, hauptsächlich sich selbst.
»Maman (Mama) trink doch nicht so viel. Außerdem weißt du ganz genau, dass man am Heiligen Abend nichts trinken soll, wenigstens nicht vor zwölf.«
Jolanta schaute angriffslustig zu Iza. Höhnisch lallte sie:
»Ah mein Töchterlein. Respektierst sein Mutter nicht. Ich trinken nicht viel. Ich nie trinken viel. Außerdem bald ist zwölf.«
»Es ist kurz nach acht«, warf ich übermütig ein.
Ein vernichtender Blick von Iza traf mich.
Piotr wandte sich jetzt an Helmut und erzählte ihm von einem kürzlich geschehenen Ereignis. Helmut hörte widerwillig zu, belohnte Piotr aber am Ende seiner Anekdote mit einem schwachen Lächeln und einem knappen Kommentar:
»Ja, ja, zweimal ist besser als einmal«, grunzte er und ließ ein riesiges Stück Lachs in seinem Mund verschwinden.
Piotr grinste darauf falsch, aber zufrieden. Jolanta schenkte nach. Ich schaute zu Iza. Ihr Blick sagte: Lange ist die Stellung hier nicht mehr zu halten.
Wieder hörten wir Sirenen, diesmal klangen sie näher als vorhin. Das war ungewöhnlich, da das Vereinsheim einsam inmitten von Fußballfeldern und Kleingärten lag. Jolanta nahm einen ordentlichen Schluck und Helmut zündete sich seine Essenshalbzeitzigarette an. Durch die Nahrungsaufnahme wirkte er weniger schlecht gelaunt.
»Maman, prosze cie, nie pij! (Mama, ich bitte dich, trink nicht so viel!)«, versuchte es Iza jetzt in ihrer Muttersprache.
Verächtlich schaute Jolanta auf ihre Tochter und schenkte sich demonstrativ nach.
»Ihr Kinder mich immer habt in Stich gelassen!«, polterte sie und setzte den Weinbrand an. Iza wurde aggressiv.
»Ja, so ist richtig Mutter, gib immer allen anderen die Schuld, für dein Unglück, für dein Leben, und versau uns dazu noch das Weihnachtsfest, darin warst du ja schon immer großartig!«
»Sprich nicht so mit dein Mutter, sonst ich hab kein Tochter mehr!«
»Wie du möchtest Maman, aber normalerweise sollte eine Mutter für ihre Kinder da sein und nicht umgekehrt. Besonders, wenn die Kinder noch klein sind!«
»Sollte ein Tochter mit sein Mutter so reden?«, wandte sie sich jetzt an Helmut.
»Hm«, grummelte dieser und spießte sich eine mit Pilzen gefüllte Piroge auf die Gabel.
Ich schaute zu Piotr, der keine Regung zeigte oder sich keine Regung anmerken ließ. Dann betrachtete ich die vom Alkohol bereits glasigen und unberechenbaren Augen von Jolanta. Ich erinnerte mich an die letzte Vereinsfeier der »Alten Herren«. Walter, Torwart und Mannschaftskapitän der »Alten Herren«, feierte seinen Vierzigsten. Iza, Piotr und ich halfen aus. Piotr hinter der Theke und wir an den Tischen. Iza hatte an diesem Tag Grippe und überdurchschnittlich hohes Fieber. Irgendwann konnte sie nicht mehr und zog sich in das Kabuff, eine Art Ersatzzimmer, hinter der Theke zurück. Jolanta hatte dies höhnisch und zugleich vorwurfsvoll zur Kenntnis genommen. Der Raum verfügte über eine Liege, hatte aber keine Tür! Gegen Mitternacht schnitt ich mich an einem zerbrochenen Glas. Ich fragte Jolanta, ob sie ein Pflaster hätte. Mit einem: »Was, Pflaster? Das man kaum kann sehen! Du sein wie Mädchen!«, verscheuchte sie mich wie eine lästige Fliege. Ich versuchte es im Kabuff, wo Iza schlief. Ich wusste, dass sie in einem geflochtenen Korb einen kleinen Vorrat an Salben, Kosmetik usw. aufbewahrte. Sie war nicht allein. An ihrem »Bett« hockte Hartmut (Rechtsaußen), der ihr zärtlich durchs Haar strich und betrunken säuselnd auf sie einredete.
»Alles klar hier?«, fragte ich mit matter Stimme, doch Hartmut beachtete mich nicht und Iza stierte mit einem fassungslosen falschen Lächeln vor sich hin.
Ich fühlte mich überfordert, suchte ein Pflaster, fand keins und verschwand. Iza verzieh es mir nie.
Ein blauer Lichtkegel huschte über die Zimmerdecke des Saals. Ein Polizeiwagen fuhr im Schneckentempo am Vereinsheim vorbei.
»Was ist denn los da draußen?«, fragte Iza, erleichtert, das Thema wechseln zu können.
»Wahrscheinlich ham se wieder bei den Kleingärtnern eingebrochen«, bemerkte Helmut.
»Und das an Weihnachten«, sagte Iza.
»Die beste Zeit fürn Einbruch«, sagte Helmut. »Die sitzen ja alle friedlich bei ihren Familien.«
»So wie wir«, warf ich ein.
Ein böser Blick von Iza traf mich. Ich stand auf, ging zur Theke und zapfte mir ein Bier. Ein böser Blick von Helmut traf mich. Jetzt ist es auch schon egal, dachte ich.
»Will noch jemand?«, fragte ich.
»Ich noch hab«, nuschelte Jolanta und prostete mir zu.
»Das ist ja nicht zu übersehen Mutter«, stichelte Iza wieder.
»Ist dir dein Mutter peinlich?«
»Darum gehts nicht … ich finds nur zum Heulen, dass du uns durch dein Gesaufe fast jedes Jahr das Fest zerstören musst!«, schrie Iza aufgebracht.
»Du nicht schreien, sonst du gleich fliegen durch Zimmer.«
Iza heulte vor Wut. Der Abend war gelaufen. Ich brauchte frische Luft. Am Tisch fragte ich Piotr, ob er auf eine Kippe mit raus wollte. Er verneinte und sagte, er müsse aufpassen, dass Mutter und Tochter sich nicht gegenseitig an die Gurgel gingen. Helmut war die Ruhe selbst. Nur dass ich mich ungefragt an seinem Zapfhahn vergangen hatte, war ihm sauer aufgestoßen.
Draußen war es kalt, und da als Lichtquelle nur der Vollmond diente, auch ein bisschen unheimlich. Ich schlenderte in Richtung Hauptplatz. Eigentlich ganz schön und friedlich hier, dachte ich, als ich über das Spielfeld blickte.
»Halt, keine Bewegung!«, vernahm ich plötzlich von der Seite, und der Strahl einer Taschenlampe blendete mich.
»Wer ist da?«, fragte ich erschrocken.
»Die Polizei! Fallen lassen!«
»Was?!«
»Weg mit dem Gegenstand!«
Ich ließ das Bierglas auf den Schlackeplatz fallen.
»Also, wer sind Sie und was machen Sie hier?«
»Nehmen Sie die Lampe runter, ich seh nichts!«
Überraschenderweise befolgte der Bulle meine Forderung.
»Also, wer sind Sie?«, wiederholte er.
»Mein Name ist Bellinger«, antwortete ich.
»Bellinger, ja?«
»Ja.«
Die Stimme des Bullen klang jung, vielleicht war er sogar jünger als ich.
»Also, was machen Sie hier?«
Ich hätte ihm gerne die gleiche Frage gestellt.
»Ich feiere Heilig Abend.«
»Wollen Sie mich veralbern?«
»Nee.«
Meine Pupillen hatten die Blendung langsam verarbeitet, und ich konnte erkennen, dass da ein Jungbulle mit Taschenlampe, und was noch viel beunruhigender war: mit gezogener Pistole, in drei Metern Entfernung vor mir stand.
»Könnten Sie die Knarre da vielleicht mal wegnehmen!«
»Was machen Sie hier, hab ich gefragt!«
»Kleinschmidt!«, tönte es von links. »Nehmen Sie Ihre Waffe runter, Mann!«
Ein zweiter Bulle, älterer Jahrgang, tauchte auf, und blendete mir mit seiner Lampe ebenfalls in die Fresse.
»Ham was bald?«, konnte ich mich nicht beherrschen.
»Nicht unverschämt werden, junger Mann.« Er nahm die Lampe runter. »Also, mein Kollege hat Sie eben aufgefordert, ihm mitzuteilen, warum Sie sich hier aufhalten.«
»Ich feier da im Vereinsheim mit meiner Freundin, ihrem Bruder, ihrer Mutter, und ihrem Stiefvater Heilig Abend«, antwortete ich pampig, aber detailliert.
»Und warum sind Sie dann hier draußen?«
»Schlechte Stimmung da drin. Ich brauchte mal frische Luft.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Zufällig konnte ich das. Ich fingerte meinen seit über einem Jahr abgelaufenen Perso aus dem Portemonnaie und übergab ihn dem älteren Bullen, der einen prüfenden Blick darauf warf.
»Der ist schon seit achtzehn Monaten abgelaufen!«
»Ja, man wird älter.«
Der Bulle überging meinen Kommentar und kam zum Wesentlichen:
»Gut, hören Sie zu. Hier im Gebiet hält sich – oder soll sich – ein dringend Tatverdächtiger aufhalten.«
»Ein dringend Tatverdächtiger?«
»Ja. Ist Ihnen hier vielleicht irgendjemand begegnet oder haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein. Was denn für ein dringend Tatverdächtiger?«, fragte ich neugierig.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es gab da eine Familientragödie.«
»Ne Familientragödie? Die hab ich da drin auch«, sagte ich und wies aufs Vereinsheim.
»Ein Mann hat seine Frau abgestochen und verstümmelt!«, konnte der Jungbulle nicht mehr an sich halten.
»Kleinschmidt! Halten Sie die Klappe! Diese Informationen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt! … Das wird noch ein Nachspiel haben!«
Eine verzerrte, für mich nicht zu verstehende Stimme dröhnte aus dem Funkgerät, das der ältere Bulle am Gürtel trug. Er nahm es zur Hand.
»17/14 hier. Ja, linke Seite überprüft. Hier ist er nicht. Nur Zivilperson, männlich, Ende.«
Er klemmte das Gerät wieder an seinen Gürtel und gab mir den Ausweis wieder.
»Ich muss Sie noch einmal drauf hinweisen, in Ihrem Interesse, halten Sie sich heute Nacht lieber nicht hier draußen auf.«
»Ich wollte sowieso grad wieder rein.«
»Gut, also dann, einen angenehmen Abend noch – ach ja und Frohe Weihnachten.«
»Was? Ach so, ja, Frohe Weihnachten.«
Sie verschwanden in der Dunkelheit. Ich zündete mir eine Zigarette an und schaute zu Boden, wo das zerbrochene Glas lag. Das wird bei Helmut nicht gut ankommen, dachte ich.
Ich hörte schlurfende Schritte, drehte mich um und sah eine Gestalt auf mich zukommen. Diesmal war es kein Bulle, soviel war sicher.
»Sind se weg?«, tönte eine schwer verraucht klingende Stimme, die mir schwach bekannt vorkam.
»Häh?«
»Die Polizisten.«
»Äh ja.«
»Komm ma her!«, forderte mich die Gestalt auf.
Unsicher trat ich zwei Schritte auf sie zu und erkannte: Es war Heinzi (Kleingärtner)! Was machte der denn hier?
»Die äh, suchen hier jemanden«, sagte ich.
»Ja, ich weiß … Ich hab mich bei euch im Keller in den Umkleidekabinen versteckt.«
»Aha.«
Ich war ein bisschen begriffsstutzig.
»Na, feiert ihr schön Heilig Abend?«
»Ja, wir versuchens.«
»Das ist gut.«
Heinzi kam näher. Er roch nach Alkohol und Zigarillo.
»Gib mal deine Hand her«, forderte er mich auf.
»Bitte, was?«
Langsam dämmerte es mir; das konnte doch nicht wahr sein! Heinzi?!
»Gib mal deine Hand her!«, wiederholte er.
Er griff sich meine nervös zur Faust geballte Hand, öffnete sie, steckte mir etwas hinein und schloss sie wieder.
»Ein kleines Geschenk für dich.«
»Äh, ja danke«, sagte ich.
Jetzt kam er sehr nah an mein Gesicht heran (noch näher und wir hätten uns küssen können) und ich sah seinen wirren Blick. Aus dem Mund roch er wie der Tod. Er flüsterte:
»Meine Olle hat mir ständig ’n Ohr abgekaut, da hab ichs dann auch getan.«
»Ja, Frauen reden viel.«
Heinzi lächelte verzerrt.
»Grüß Helmut von mir. Frohes Fest.«
»Äh ja, Ihnen auch.«
Endlich ließ er meine Hand los. Einen Augenblick stand er unschlüssig da, dann schlenderte er los, quer über das Spielfeld, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Ich öffnete die Hand, konnte den Inhalt zunächst aber nicht richtig erkennen. Ich nahm mein Feuerzeug und machte Licht. Im nächsten Moment warf ich das Geschenk zu Boden. Da lag es, tatsächlich, ein Ohr. In aller Ruhe betrachtete ich das Teil und hob es wieder auf. Ich wunderte mich, dass es gar nicht mit Blut verschmiert war. Heinzi musste es sorgfältig sauber gemacht haben. Ich hätte vermutet, dass es mich mehr schockieren würde. Die Medien lassen einen wirklich abstumpfen. Wie in »Blue Velvet« wickelte ich das Ohr in ein Taschentuch und ging zurück ins Vereinsheim.
Drinnen hatte sich die Stimmung nicht verändert, nur saß keiner mehr am Tisch. Iza und Jolanta schrien sich mittlerweile in der Küche an und die anderen hatten sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Als ich an den Tisch trat, stürmte Iza aus der Küche und griff sich ihre auf der Theke liegenden Zigaretten.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte sie unter Strom stehend. Die Schminke unter ihren Augen war zerlaufen.
»Draußen.«
»Sei froh. Hier drin herrscht der Wahnsinn.«
Sie zündete sich überhastet eine an.
»Draußen wars auch nicht schlecht.«
»Meine Mutter ist so geistesgestört, ich halte das einfach nicht mehr aus.«
»Ich hab Heinzi getroffen.«
»Heinzi? Den Frühschoppen-Heinzi?«
»Genau den … Der hat seine Frau gekillt.«
»Ja, die arme Frau, was der mit ihr heute Mittag abgezogen hat … der sollte froh sein, wenn die ihn nicht anzeigt.«
Aus der Küche drang etwas auf Polnisch, das wie ein Vorwurf klang. Iza fluchte leise vor sich hin, schüttelte resignierend den Kopf und schaute mich an.
»Was versteckst du da in der Hand?«, fragte sie beiläufig.
Dieser Frau entging nichts.
»Ein Ohr.«
»Ach so«, sagte sie abwesend.
Jolanta giftete wieder. Iza schrie laut auf und stürzte wutentbrannt zurück in die Küche. Der Mutter-Tochter Disput entbrannte von Neuen. In der Nähe ertönte eine Polizeisirene. Ich legte Heinzis Weihnachtsgeschenk auf die Theke, ging zum Telefon und rief die Bullen.
»Wasn das für ne Sauerei?«, verkündete der von den keifenden Frauen geflüchtete Helmut, als er das Ohr auf der Theke entdeckt hatte.
»Ein Ohr«, antwortete ich.
»Das seh ich auch, du Horst. Ich wollte wissen, was das hier macht?«
»Das ist von Heinzi – also von Heinzis Frau.«
»Was?!«
»Ich hab die Bullen schon angerufen.«
»Junge, willst du mich verkackeiern?«
»Nein, kein Scheiß Helmut, ich glaub, dein Frühschoppen- Heinzi hat seine Frau umgebracht oder jedenfalls beschädigt.«
»Das Teil ist von Heinzis Frau!«, brüllte Helmut nahezu und wies mit seinen dicken Wurstfingern angewidert auf das Ohr.
»Ja, sieht danach aus. Wie gesagt, ich hab schon die Polizei angerufen.«
»Das soll von Heinzis Frau sein, hast du zu viel gesoffen Junge oder was?«, fragte Helmut bereits ärgerlich werdend.
»Nein, ich hab ihn draußen getroffen – da ist überall Polizei, die suchen den schon – da hat ers mir in die Hand gedrückt.«
»Er hats dir in die Hand gedrückt?!«
»Ja.«
»Das Ohr?!«
»Jaa!«
Ungläubig schaute Helmut mich an.
»Und das soll ich dir glauben?«
»Ist dir überlassen«, entgegnete ich patzig.
Piotr trat ins Zimmer.
»Was los?«, fragte er.
»Heinzi hat seiner Frau ’n Ohr abgeschnitten.«
Ich wies zur Theke. Helmut zündete sich genervt eine Zigarette an und hockte sich auf einen Barhocker neben dem monoton vor sich hin piependen Spielautomaten. Iza und Jolanta schrien in der Küche munter weiter. Piotr griff sich das Ohr und unterzog es einer eingehenden Prüfung.
»Is echt«, verkündete er und legte es unbedacht auf die Weihnachtstafel.
»Natürlich ist das echt!«
»Mann, nimm das Ding da vom Tisch runter!«, schimpfte Helmut.
Piotr nahm das Ohr wieder an sich.
»Und wohin damit?«
»Mann, weiß ich doch nich, aber das muss da ja nicht unbedingt bei unserm Essen liegen!«
Hast wohl Angst, dass du es versehentlich auffressen könntest, dachte ich.
»In Küche?«, fragte Piotr dumm.
»Na klar in die Küche! Dann ruf doch auch gleich noch beim Gesundheitsamt an!«
»Ja, aber wohin?«, fragte Piotr hilflos.
»Mann, legs doch auf ’n Fußboden – oder besser noch – brings nach draußen.«
»Nach draußen?«
»Ja! Du kannst es dir natürlich auch in die Hosentasche stecken, oder ans Knie nageln, wenns dir lieber ist.«
Piotr machte sich auf den Weg zur Tür, da klingelte es. Die Bullen waren schneller gekommen, als ich erwartet hatte.
»Nun mach schon auf!«, raunte Helmut.
Unschlüssig, mit dem Ohr in der Hand, öffnete Piotr die Tür. Zwei Kripobeamte standen draußen.
»Sie haben uns angerufen?«, fragte einer von Ihnen.
»Ich äh, nein«, stammelte Piotr.
»Das war ich!«, rief ich von hinten.
»Dürfen wir reinkommen?«
»Äh, ja duurfen Sie natuurlich.« Augenblicklich machte sich Piotrs polnischer Akzent wieder bemerkbar.
Die Kriminalbeamten betraten das Vereinsheim.
»Guten Abend … am Telefon sagten Sie … es würde sich ein abgetrenntes Körperteil in ihrem Besitz befinden, beziehungsweise, Sie hätten es gefunden, ist das korrekt?«, wandte sich ein leicht kränklich aussehender Kripotyp an Piotr und schielte dabei sofort auf das Ohr in dessen Hand.
»Ja, äh nein, das war isch nisch«, stammelte Piotr weiter und hielt ihm das Ohr fast direkt unter die Nase.
»Bitte?«
»Er meint, dass nicht er, sondern ich es gefunden habe«, sorgte ich für Aufklärung.
»Nun gehen Sie mir doch mal mit dem Ding da weg!«, fuhr der leicht angeekelte Beamte Piotr an. Er legte das Ohr zurück auf den Tisch. Helmut blickte mürrisch.
Daraufhin erzählte ich die vollständige Heinzi-Geschichte. Die Bullen hörten aufmerksam zu und der kränklich aussehende Knabe erkundigte sich nebenbei nach meinen Personalien. Dass ich meine Daten draußen eine halbe Stunde zuvor schon aufgesagt hatte, verschwieg ich. Währenddessen dröhnte abermals ein ordentlicher Schwall polnischer Kraftausdrücke aus der Küche und irgendetwas wurde auch auf den Boden geworfen. Iza und Jolanta gaben noch einmal alles.
»Was ist denn da bei Ihnen los?«, erkundigte sich jetzt der andere Polizist irritiert, ein dickliches, älteres Exemplar.
»Das ist nichts, nur ’n kleiner Familienstreit«, wehrte Helmut ab.
»Sind Sie hier der Eigentümer?«
»Der Pächter«, korrigierte Helmut und blies eine Ladung Rauch aus seiner Lunge.
Ich fuhr mit meinen Erklärungen fort.
Es stellte sich heraus, dass Heinzi in der Zwischenzeit bereits verhaftet worden war. Er war wohl auf seiner Flucht vor den Bullen, als letzten Ausweg, in die Weser gesprungen. Jedenfalls hatte man ihn dort halbtot herausgefischt. Er würde jetzt im Krankenhaus wegen starker Unterkühlung behandelt und könne daher erst später vernommen werden. Dass es sich bei dem abgetrennten Objekt um das Ohr von Heinzis »Ollen« handelte, erwies sich als durchaus im Bereich des Möglichen, da sie in Heinzis Gartenlaube eine leblose weibliche Person aufgefunden hatten, der tatsächlich ein Ohr fehlte. Zudem entlockte ich den Beamten die vertrauliche Information, dass sich Heinzi mit einem Messer wohl auch noch anderweitig an seiner Frau ausgetobt hatte. Abschließend teilte mir der Ältere mit, dass ich nach Weihnachten ins Präsidium kommen müsse, um meine Aussage zu Protokoll zu geben. Großartig! Danke Heinzi!
Kurz bevor sie gingen, warf der kränklich aussehende Bulle noch einen letzten irritierten Blick in Richtung Küche, in der weiterhin verbal die Fetzen flogen. »Frohes Fest.« kam abschließend noch aus ihm heraus – es war nicht zu deuten, ob er es ironisch meinte oder nicht.
Kaum hatte sich die Staatsmacht samt Ohr vom Acker gemacht, spurtete auch schon Iza mit umgehängter Tasche aus der Küche.
»Das bringt einfach nichts mit der Frau, da ist jede Diskussion zwecklos«, verkündete sie und umarmte Helmut zur Verabschiedung, der dies wie immer herzhaft genoss und den Körperkontakt so lang wie möglich in die Länge zu ziehen versuchte. Diesmal hatte er kein Glück; Iza löste sich geschickt aus der Umarmung, verabschiedete sich schnell von ihrem Bruder und kurz darauf befanden wir uns auf der Heimfahrt.
»Manchmal hasse ich sie einfach«, verkündete Iza im Wagen. Sie zündete sich eine an.
»Wen? Deine Mutter?«
»Ja, wen denn sonst, du Depp.«
»Wenigstens habt ihr ordentlich für Stimmung gesorgt.«
»Jedes Weihnachten die gleiche Scheiße. Meine Mutter und ich sind einfach zu verschieden. Sie hat auch zu früh geheiratet, und hat mich, und vor allem Piotr zu früh gekriegt. Sie war gerade mal neunzehn, als sie mit meinem Bruder schwanger war. Und jetzt ist sie unzufrieden und unglücklich und lässt die ganze Scheiße an uns aus.«
»Tja. Jetzt hast ja erstmal wieder ’n Jahr Ruhe.«
»Abwarten. Wollen mal sehen, was sie nächsten Monat an ihrem Geburtstag abzieht.«
»Müssen wir da hin?«
»Natürlich müssen wir da hin!«, raunte Iza ärgerlich.
»Schon gut, war ja nur ne Frage.«
»Wer hatte denn da vorhin noch geklingelt?«, fragte sie nach einer Weile.
»Die Bullen waren kurz da.«
»Polizei?«
»Yo.«
»Am Heiligabend? Warum?«
»Wegen Heinzi.«
»Oh Gott ist das peinlich und wir haben die ganze Zeit in der Küche rumgeschrien … Haben die das gehört?«
»War kaum zu überhören.«
»Au Mann, meine Mutter ist so peinlich. Ich hasse es, wenn fremde Leute sowas mitkriegen müssen.«
»Nicht so schlimm, die hatten andere Sorgen.«
»Doch, das ist schlimm!«
Ich verschwieg ihr, dass sie in der Küche eindeutig lauter geschrien hatte als ihre Mutter. Ich wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen.
»Ist das peinlich«, wiederholte sie monoton. Sie öffnete das Beifahrerfenster einen Spalt und schmiss die Zigarette nach draußen, »einfach nur peinlich …«
»Es gibt Schlimmeres, Süße.«
»… einfach nur peinlich.«
Jörn Birkholz