8. November 2018

Libidinisten und andere Nihilisten

 

Was Nietzsche über Houellebecq gedacht haben könnte

 

Nietzsche nahm ein Buch zur Hand wie andere auf die Jagd gehen: Zwischen den Zeilen witterte er den Menschen, blitzschnell spürte er innere Verwandt- oder Feindschaften auf und manchmal, wenn ich Houellebecq lese und seine Nekrose auf mich überzugreifen droht, stelle ich mir die Frage, was er zu diesem Phänomen wohl gesagt hätte: Wäre er für ihn nicht nur ein weiterer Prediger des Todes gewesen? Ein Schwindsüchtiger der Seele? Ein décadent par excellence? Einzureihen gleich hinter Schopenhauer, Baudelaire oder den Brüder Goncourt? Seine Wissenschaftlichkeit nur Ausdruck der europäischen Willenslähmung? Sein Wille zur Wahrheit nur ein versteckter Wille zum Tode? Sein Urteil das eines Verurteilten? Spricht aus seinen Werken nicht – der letzte Mensch?

Es geschieht wie von selbst. Es ist, als ob mein Geist instinktiv bei Nietzsche Zuflucht suche, um sich aus den »Fallstricken der Depression« (Stefan Zweifel), die Houellebecq gekonnt zu legen versteht, befreien zu können. (1) Ohne Frage muss diese Befreiung eine geistige sein, denn in den Werken des französischen Autors erhält das Leid eine pseudo-rationale Erklärung, die nur verdeckt, dass hier die Rancune gegen das Leben ihren intellektuellen Niederschlag findet: Sie ist es, die seinen Erkenntnissen die Motive, die Energie, die Richtung und die stimmungshafte Einfärbung gibt. Bei dem Positivisten Houellebecq liegen die Dinge freilich anders herum: Erkennen heißt für ihn wesentlich Abbilden und so stellt er die Welt lediglich fest. (2) Seine Depression hat allein intellektuelle Gründe, ist gewissermaßen nur der affektive Aspekt seiner Luzidität. (3) Und doch reicht bloße Widerwärtigkeit nicht aus um wahrhaftig zu sein (wie Houellebecq in Rester vivant postuliert) – es gibt keine objektive Erkenntnis, keine Wahrheit ohne Illusion. Seinen Lebensüberdruss hebt er auf die intellektuelle Ebene einer Weltanschauung, die zutiefst im Affektiven verankert bleibt. Worauf Nietzsche als einer der ersten Psychologen unter den Philosophen aufmerksam gemacht hat, ist, dass Wissen vor allem auch psychologisch zu verstehen ist: die Lehre von der durchgängigen Subjektivität aller Wahrheit.

Gerade bei der Frage nach dem Wert des Lebens darf der Fragende nicht unberücksichtigt bleiben. Vielmehr erlaubt diese Fragestellung am allerwenigstens eine Trennung von Subjekt und Objekt, denn letztlich urteilt man immer über sein eigenes Leben. (4) Niemand kann eine Erkenntnis des Lebens im Ganzen haben – und die Wahrheit ist stets das Ganze. »Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht – an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger danach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andren Grunde.« (5) Das Material ist nie hinreichend um eine Gesamtabschätzung zu gestatten. »Man müsste«, wie Nietzsche schreibt, »eine Stellung außerhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie einer, wie viele, wie alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Wertdes Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, daß dies Problem ein für uns unzugängliches Problem ist.« (6) Der Mensch als perspektivisch gebundenes Wesen ist weder olympischer Betrachter noch Gesamtsubjekt. (7) Dem urteilenden Subjekt fehlt ein verlässlicher Maßstab. Denn: »Woran will man das Ganze messen? Es gibt doch ‚nichts (...) außer dem Ganzen‘! Wie nach Sinn, Wert und Grund fragen, wenn jeder Sinn, Wert und Grund im Ganzen inbegriffen ist? Also kann wieder nur nach internen Maßstäben gemessen werden. Und dann geht es eben nicht ums Ganze. Dann geht es wieder nur um eine ‚Kritik des Seins‘ aus irgendeinem seiner partiellen Werte.« Somit scheint Houellebecq ganz in der Schule des romantischen Pessimismus zu stehen, »einzelne persönliche Erfahrungen zu allgemeinen Urteilen, ja Welt-Verurteilungen aufzubauschen« (8). Diese Urteile aber sind letztlich genauso exzentrisch wie zu glauben, die Welt drehe sich nur um den Menschen, da sich der Mensch als »Wertmaß der Dinge« geriert, als »Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Waagschalen legt« (10) und an lächerlichen Wünschbarkeiten die Wirklichkeit des Ganzen messen will. Maximalvorstellungen als Maßstab an das Leben anlegen und es dann sofort zum niedrigsten Preise losschlagen, weil nicht alle Blütenträume reifen, gilt Nietzsche als faule Rechnung.

Houellebecq will gleich alles: »Ich will fliegen können, unter Wasser atmen können – und natürlich einen Körper haben, mit dem der Sex optimal funktioniert.« (11) Das ist auch der einzige Grund, aus dem sich der Autor von Lesparticules élémentaires der Gentechnik zuwendet: Weil sie ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, von denen man früher nur zu träumen wagte. Dieser infantile Lustbezug zur Welt lässt sich fast überall bei Houellebecq nachweisen, seine Utopien sind im Grunde nichts anderes als der Versuch, die mütterlich-nährende Welt wiederherzustellen – eine Art Göttin Nut, die sich im Vierfüßlerstand, als weibliches Himmelszelt, über die Menschen beugt (12). Alle Lust will Ewigkeit, doch leider dauert sie nur acht Sekunden. Die Lust geht auf Sterblichkeit, nicht auf Unsterblichkeit, so Dietmar Kamper (13), sonst macht sie sich einer Verwechslung schuldig. Houellebecq möchte für immer im Schlaraffenland leben, die fordernde Welt, alles Unangenehme, Anstrengende, Schmerzhafte (jede Differenz, jedes Werden, jedes Vergehen) wird radikal zurückgewiesen – wie ein Süchtiger identifiziert er sich völlig mit den Ansprüchen des Es. In einem Interview mit Sigrid Weigel gesteht Houellebecq seine Liebe zu allen regressiven, symbiotischen, ozeanischen Emotionen: Er träume von einer Erotik als einer Art unendlicher Whirlpool und von einem Körper als vollkommener Genussmaschine (14). 

Es ist schon auffällig, wie leichtfertig Houellebecq die conditio humana zugunsten des größtmöglichen Glücks aller zu transformieren bereit ist. Während Nietzsche alles schlimmer machen will, sich immer größere Prüfungen auferlegt (wie der Ewigen Wiederkehr) um das Leben unter allen Umständen, auch den widrigsten, zu affirmieren, ist Houellebecqs stillschweigende Prämisse, dass absolut kein Leid sein darf (wodurch es dann aber auch keine Erfüllung mehr geben könnte, da Lust und Unlust, wie die Stoiker wussten, mit einem Strick zusammengeknüpft sind und die Abwesenheit jeglichen Mangels ja zugleich die Abwesenheit allen Begehrens bedeuten würde). Keiner, der so wenig zum Märtyrertum bereit wäre, der so unheroisch daherkäme wie Houellebecq – er selber fühle sich dem letzten Menschen auch viel näher als dem Übermenschen. (15) Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln. In Elementarteilchen heißt es dann: »Die Welt, die wir kennen, die Welt, die wir schaffen, die menschliche Welt ist rund, glatt, homogen und warm wie eine Frauenbrust.« (16) 

Vielleicht hätte Nietzsche in Houellebecq lediglich einen Libidinisten gesehen, der unter postkoitaler Traurigkeit leidet; und hinzugefügt, dass der Orgasmus im Französischen nicht umsonst la petite mort genannt wird.

 

M. A. Sieber

 

 

Anmerkungen

 

(1) Dass man sich aus dem Geist Nietzsches heraus gegen Houellebecq zur Wehr setzen kann, hat schon Mirjam Schaub in ihrem Essay »Die Feigheit des Affekts« gezeigt (in: Thomas Steinfeld (Hrsg.), Das Phänomen Houellebecq, Köln 2001, S. 33–53). Auch Stefan Zweifel reiht Houellebecq in die Tradition von Sokrates und Jesus ein, die des Lebens müde sind und es deshalb im Namen höherer Werte – im diesem Fall: der Liebe – entwerten (vgl. Stefan Zweifel, »Depressive Dekadenz« im selben Sammelband, S. 73–81) 

(2) Diese Gabe zur scharfen Beobachtung und kalten soziologischen Analyse wurde Houellebecq immer wieder attestiert, doch über der Lektüre hat man offenbar vergessen, dass seine klinische, nüchterne und lakonische Art zu schreiben weniger mit dem Gegenstand, als mit den Absichten des Autors zu tun hat. Houellebecqs erzählerisches Postulat scheint, ganz ähnlich wie es Sartre an Camus’ L’Étrange aufgezeigt hat, darin zu bestehen, jede Realität auf eine Summe von Einzelteilen zurückzuführen und zu behaupten, dass dies das Ganze sei: »Die Analyse ist aber nicht nur ein Instrument der Wissenschaft, sondern auch ein Instrument des Humors. Wenn ich einen Rugbykampf mit den Worten beschreibe: ‚Ich sah Erwachsene in kurzen Hosen, die sich schlugen und zu Boden warfen, um einen Lederball zwischen zwei Holzpfosten durchzutreiben‘ – dann habe ich damit die Summe dessen gegeben, was ich gesehen habe; ich habe aber absichtlich den Sinn unterschlagen, ich habe eine humoristische Schilderung gegeben. Camus’ Erzählung ist analytisch und humoristisch. Er lügt – wie jeder Künstler –, weil er so tut, als gebe er nichts als die nackte Erfahrung wieder, dabei aber heimlich alle bedeutsamen Verbindungen weglässt, die doch ebenfalls zur Erfahrung gehören.« (Jean-Paul Sartre, »Der Fremde von Camus«, in: ders., Der Mensch und die Dinge. Aufsätze zur Literatur 1938–1946, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 75–90, hier: S. 86) 

(3) In Extension du domaine de la lutte heißt es: »Aber konkret verstehe ich nicht, wie es den Menschen gelingt zu leben. Ich habe das Gefühl, dass eigentlich alle unglücklich sein müssten ... Verstehen Sie, wir leben in einer derart einfachen Welt. Es gibt ein System, das auf Beherrschung, Geld und Angst beruht – ein eher männliches System, nennen wir es Mars; und es gibt ein weibliches System, das auf Verführung und Sex beruht, nennen wir es Venus. Das ist auch schon alles.« (Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, 10. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 161) Hier stürzt sein überfliegendes Denken jäh vom Himmel, hier schon versickert seine Wahrheitssuche: Die Welt ist derart einfach, dass es zum Heulen ist – und Houellebecq ist zu der Überzeugung gelangt, dass eben in dieser maßlosen Vereinfachung der Welt die Wahrheit besteht. 

(4) Vgl. Ludger Lütkehaus, Nichts, Zürich 1999, S. 320 

(5) Friedrich Nietzsche, Götzen-DämmerungWerke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 951f. 

(6) Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 968 

(7) Vgl. Lütkehaus a. a. O., S. 328 

(8) Vgl. Lütkehaus a. a. O., S. 331f. 

(9) Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Werke in drei Bänden. Bd. 1, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 741. 

(10) Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Werke in drei Bänden. Bd. 2, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 211. 

(11) Michel Houellebecq: »Liebe ist kein Kitsch«, in: WELT ONLINE 2002. Dieser Absolutheitsanspruch rückt Houellebecq im Übrigen viel näher in den Umkreis einer littérature engagée im Sinne Sartres, als der Autor selber vielleicht wahrhaben will. 

(12)»Man kann auf der Welt leben, ohne sie zu begreifen«, heißt es im letzten Kapitel von Plattform, »man muß es nur verstehen, etwas zu essen, Liebkosungen und Liebe von ihr zu erhalten.« (Michel Houellebecq, Plattform, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 338)

(13) Vgl. Dietmar Kamper, »Rauschfähigkeit. Die Balance des Glücks«, in: Monica Thiele/Stephan Uhlig (Hrsg.), Rausch– Sucht – Lust: kulturwissenschaftliche Studien an den Grenzen von Kunst und Wissenschaft, Gießen 2002, S. 177–182 

(14) Vgl. Sigrid Weigel/Michel Houellebecq, »Die Quantenmechanik, das Komplementaritätsprinzip, der Todestrieb, die Liebe und die Poesie. Ein Gespräch«, in: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 157 (2001), S. 13–24, hier: S. 21 f. Der menschliche Leib nimmt bei Houellebecq insgesamt eine zentrale Stellung ein: Entweder ist er ein Ort der Transformation (ElementarteilchenDie Möglichkeit einer Insel) oder eine Quelle sinnlicher Freuden (ElementarteilchenPlattform). In Die Möglichkeit einer Insel schreibt er: »Wir sind Körper, sind im wesentlichen und fast ausschließlich Körper, und unsere körperliche Verfassung liefert die wahre Erklärung für fast alle unsere geistigen und moralischen Anschauungen.« (Michel Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel, Köln 2005, S. 195) Genau dies ist im Übrigen auch die Position Nietzsches: dass die eigene Konstitution mit der Geisteswelt in engster Verbindung steht. Genau dies ist im Übrigen auch die Position Nietzsches: dass die eigene Konstitution mit der Geisteswelt in engster Verbindung steht. In Jenseits von Gut und Böse heißt es etwa: "Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf." (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 626)

(15) Vgl. Dirk Fuhrig/Michel Houellebecq, »Gute Aussichten im Genlabor. Michel Houellebecq über Swingerclubs, den Sex, den Tod und über die Freuden der künstlichen Fortpflanzung«, in literaturkritik.de Nr. 11 (1999) 

(16) Michel Houellebecq, Elementarteilchen, 10. Aufl. Köln 2004, S. 350