8. November 2018

Geschwindigkeit, Oberfläche und Widerstand

Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Einstellungsraum Hamburg
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung v.r.: LS#3, 2018, Graphit auf Papier 42 x 118,8 cm / LS#1+#2, 2018, Graphit auf Papier 29,7 x 63 cm; B#3-13, 2018, Graphit auf Papier, 29,7 x 42 cm / 42 x 29,7 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung v.r.: LS#1+#2, 2018, Graphit auf Papier 29,7 x 63 cm; B#3-13, 2018, Graphit auf Papier, 29,7 x 42 cm / 42 x 29,7 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung: B#3-9, 2018, Graphit auf Papier, 29,7 x 42 cm / 42 x 29,7 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung: B#5, 2018, Graphit auf Papier, 29,7 x 42 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung: B#9, 2018, Graphit auf Papier, 29,7 x 42 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung: BS#1, 2018, Graphit auf Papier 220 x 150 cm
Dorothea Goldschmidt, Ausstellungsansicht BREAK, 2018, Detail der Installation, Zeichnung: LS#1+#2, 2018, Graphit auf Papier 29,7 x 63 cm

 

Eröffnungsrede zur Ausstellung »BREAK« von Dorothea Goldschmidt

im Rahmen des Jahresthemas: (Keine) Wendemöglichkeit

in der Galerie des Einstellungsraum e.V., Hamburg

  

Mit dem Essay »Geschwindigkeit und Politik« des französischen Philosophen Paul Virilio von 1977 ist die Beschleunigung als bedeutender Aspekt der spätkapitalistischen Gesellschaft in den philosophischen und soziologischen Diskurs eingeführt worden. 

Virilio begriff die Geschwindigkeit zunächst vor allem als Kennzeichen der politischen Macht. Gleichzeitig sagte er den sogenannten »Dromologischen Stillstand« voraus, den Infarkt der Beschleunigung, den wir tagtäglich erleben, wenn eine vollmobilisierte und hochmotorisierte Gesellschaft im Stau steht oder sich die Kommunikationsgeschwindigkeit trotz immer zahlreicher werdenden Schnittstellen nicht erhöht, sondern mitunter sogar gebremst wird durch die notwendige Bewältigung technischer Mängel, die als Abfallprodukt der Entwicklungsgeschwindigkeit kommunikativer Schnittstellen ebenfalls zahlreicher werden.

Der Philosoph und Soziologe Hartmut Rosa, der heute als führender Forscher auf dem Gebiet der Beschleunigungstheorie gilt, verschob den Schwerpunkt seiner Untersuchungen von dem Verhältnis zwischen Macht und Geschwindigkeit auf die soziale Beschleunigung des Menschen, die schließlich keinen Zeitgewinn mehr hervorbringt, sondern ganz im Gegenteil Zeitnot schafft, da die Steigerungsrate der technischen Möglichkeiten die Beschleunigungsrate der Verarbeitung übersteigt. 

Der Mensch wird also von der Entwicklung, die er selbst in Gang gesetzt hat, überholt, dennoch versucht er permanent, mit ihr Schritt zu halten, und müht sich, die sich vermehrenden Möglichkeiten zu überschauen, zu verstehen und ihr Potenzial für sich nutzbar zu machen, um »auf dem Laufenden« zu bleiben. Doch da er versucht mit einer systemischen, synergetischen Beschleunigung Schritt zu halten, die sich exponentiell steigert, sind seine Anstrengungen von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Einen Aspekt der Beschleunigung, der den Erfahrungsraum des Menschen betrifft, haben beide Philosophen jedoch wenig beachtet: die Wechselwirkung von Geschwindigkeit, Oberfläche und Identität.

Dieses Zusammenspiel lässt sich am besten anhand der Karosseriegestaltung von Automobilen verbildlichen: 

Zwar gab es bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Ansätze, Karosserien stromlinienförmig zu gestalten, doch da es nahezu keine Untersuchungen im Windkanal gab, entsprachen die Ergebnisse eher den ästhetischen Vorstellungen von Eleganz und Schnittigkeit, als einer tatsächlichen Minimierung des Strömungswiderstands. Modelle wie der Tropfenwagen von Edmund Rumpler von 1921 und der Chrysler Airflow von 1934, deren Karosserien tatsächlich stromlinienförmig waren, konnten sich auf dem Markt deshalb nicht durchsetzen. 

Dementsprechend wurden Automobile vor allem unter den Gesichtspunkten der Ästhetik gestaltet, was den Designern große Freiheiten einräumte. Auch wenn die Formen natürlich gewissen Moden unterworfen waren, waren die Marken und Modelle gut voneinander zu unterscheiden. Sie waren unter gewissen Gesichtspunkten individuell und etliche Wagen wurden aufgrund ihres eigenwilligen Aussehens zu Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts, wie der Citroen DS, der VW Käfer, der Mercedes Benz 300 SL mit den markanten Flügeltüren, die Ente, der Heinkel Kabinenroller, der Austin Mini, der Jaguar E Type, der Porsche 356 oder der VW-Bus T1.

Im späten 20. Jahrhundert wurden die Aspekte von Ökonomie und Geschwindigkeit in der Konkurrenz der Hersteller immer wichtiger und die Forschung im Windkanal zum Standard. In der heutigen Gestaltung einer Karosserie dominiert die Aerodynamik alle anderen Gestaltungsabsichten. Die Oberflächen ordnen sich dem Primat der Geschwindigkeit unter und bieten so wenig Luftwiderstand wie möglich, mit dem Ergebnis, dass sich die Gestaltung der verschiedenen Automobile bis zur Gesichtslosigkeit angleicht. 

Die gleiche Entwicklung, also die Normierung der Oberfläche durch Geschwindigkeit, tritt aber auch in Lebensbereichen auf, in denen der Begriff der »Oberfläche« nur noch von metaphorischem Charakter ist. So werden z.B. digitale Benutzeroberflächen so gestaltet, daß sie dem User so wenig Widerstand wie möglich entgegensetzen. 

Um diesen »Benutzerwiderstand« zu minimieren, werden die Navigationsgewohnheiten der Nutzer aufgegriffen. Entsprechend werden Gestaltungsschemata übernommen, die den Nutzern vertraut und deshalb schnell erfassbar sind. So kann man sich bei dem Besuch einer neuen Internetseite in der Regel in kürzester Zeit orientieren, denn die Menüleiste befindet sich fast immer in der Kopfzeile, das Impressum am Seitenende, die Eingabemasken von Benutzername und Passwort oben rechts oder links etc.

Durch diese Schematisierung wird die Geschwindigkeit erhöht, mit der der Benutzer navigieren, rezipieren und konsumieren kann, die Individualität der Oberflächengestaltung nimmt hingegen reziprok ab.

Selbst die akustischen Oberflächen in postindustriellen Kontexten werden immer mehr normiert und »stromlinienförmig« gestaltet. Im Bereich der Popmusik liegen dazu inzwischen umfassende Untersuchungen vor, vor allem die Studie Measuring the Evolution of Contemporary Western Popular Music von Joan Serra et. al. aus dem Jahr 2012. 

Da die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörer immer kürzer wird, dürfen sie nicht mit Tonfolgen und Arrangements konfrontiert werden, die ihre Hörgewohnheiten durchbrechen, sondern mit Phrasen, die ihnen bereits vertraut sind, deren Reiz lediglich in minimalen Variationen eines bekannten Themas besteht. 

So sind neue Produktionen bestenfalls schnell eingängig, können sofort mitgesummt werden und suggerieren dem Hörer eine gewisse Vertrautheit und Nestwärme. Diese Mechanismen werden von der Musikindustrie gezielt ausgenutzt und kulminieren in Erscheinungen wie dem Millennial Whoop, der wiederholten Abfolge des fünften und dritten Tones einer Dur-Tonleiter, die in nahezu jedem aktuellen Popsong genutzt wird.

Selbst in der Musik führt also die gesellschaftliche Beschleunigung zu einer Normierung der Werke und einem Verlust von Individualität.

Doch wie agiert nun der Mensch in einer Welt, in der er von immer eintönigeren, makellosen Oberflächen umgeben ist, von einem schönen Schein, der derart gestaltet ist, das die Geschwindigkeit der Rezeption und des Konsums auf Kosten markanter, origineller Anhaltspunkte permanent erhöht wird? 

Begreifen wir die Identität des Menschen mit einem relationalistischen Verständnis, also als das Geflecht seiner Beziehungen zu seiner Umwelt, und beobachten wir gleichzeitig eine stetig zunehmende Normierung dieser Umwelt bis hin zur völligen Eintönigkeit, bedeutet das, dass es mit zunehmender gesellschaftlicher Beschleunigung immer schwerer fällt, eine klar abzugrenzende Individualität zu etablieren.

In der westlichen Gesellschaft, in der der Individualität jedoch ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, muss diese Entwicklung zwangsläufig eine schizophrene Identität hervorbringen, oder in ein Bedürfnis nach Widerstand münden, in einem Verlangen nach Oberflächen, an denen man sich reiben kann, in einem Hunger nach markanten und einmaligen Anhaltspunkten, zu denen man sich in Beziehung setzen und anhand derer man sich in der Wirklichkeit verorten und die eigene Identität gegenüber anderen abgrenzen kann.

Kehren wir an diesem Punkt zurück zu den Automobilen und wenden wir uns den Arbeiten Dorothea Goldschmidts zu:

Auf den Bleistiftzeichnungen des aktuellen Werkkomplexes, der in der Ausstellung »BREAK« gezeigt wird, sehen wir verschiedene Produkte der Automobilindustrie, deren Formen Ergebnis einer normierenden Gestaltung sind.

Sie sind frontal mit leichter Aufsicht abgebildet, eine Perspektive, die auch gerne in der Werbung genutzt wird, um die Wagen als besonders kraftvoll und bullig erscheinen zu lassen, also auch, um ihre Leistung und die damit erreichbare Geschwindigkeit zu betonen. Die Umgebung, in der sie zweifellos gestanden haben, ist ausgeblendet und so fokussiert sich der Blick ohne erzählerische Anhaltspunkte auf die Objekte selbst. 

Doch statt der Zeugnisse hochtechnisierter Ingenieurskunst mit der üblichen Neuwagen-Hochglanz-Optik, die mit diesem Inszenierungsmuster sonst einhergeht, sehen wir auf den Bildern Zeugnisse der Zerstörung. 

Keiner der gezeichneten Wagen wird aus eigener Kraft auch nur einen einzigen Zentimeter mehr fahren können. Die Maschinen, die ein Symbol der normierten, mobilisierten und beschleunigten Gesellschaft sind, sind durch ein jähes, gewalttätiges Ereignis, ein Feuer, zum endgültigen Stillstand gekommen, sind in einer metaphorischen Sackgasse gelandet.

Doch trotz dieses Stillstands können wir eine zeitliche Bewegung aus den Bildern lesen. Sie geben deutlich Zeugnis von einem Davor in linearer Raserei, einem gewalttätigen Einschnitt, dem Nullpunkt, und von einem Danach

Doch ist dieses Danach keinesfalls statisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist ebenso in einer Bewegung begriffen, wie das Davor. Die Wagen scheinen durch das Durchschreiten des Nullpunkts vielmehr in einen anderen dynamischen Zustand übergegangen zu sein, der sich jedoch auf einer vollkommen anderen zeitlichen Skala abspielt und zudem von gänzlich anderer Qualität ist.

Die Wagen durchmessen zwar nicht mehr wie Sekundenzeiger den Raum, um die Raumzeit erfahrbar zu machen, doch die Bewegung der Wagen ist nicht vollständig zum Stehen gekommen. Sie ist nur in eine vollkommen unerwartete Richtung umgeschlagen: Die Autowracks bewegen sich nicht mehr durch die drei Dimensionen des Raums, sondern ihre Bewegung durch die Vierte Dimension, die Zeit, ist verstärkt und sichtbar gemacht worden. 

Die Zeit manifestiert sich nun in ihnen selbst als Vergänglichkeit. Und diese Vergänglichkeit mit ihrem durch die Katastrophe ausgelösten Verfall gibt ihnen erstmals eine Individualität, die ihnen vorher durch die industrielle Anpassung an zunehmende Geschwindigkeit vorenthalten worden ist. 

Gleichzeitig ist durch die einschneidende Katastrophe, die die Linearität der Zeit unterbrochen hat, etwas enthüllt worden, was vorher durch die makellosen Oberflächen aus Lack und getöntem Glas verborgen geblieben ist: das Innere der Fahrerkabine, die Struktur der Karosserien, die Motoren, die Federungen der Sitze. Man blickt in die Wagen wie in aufgebrochene Schatzkästchen oder Uhrwerke, deren Aufgabe es nicht mehr ist, eine Funktion und einen Zweck zu erfüllen, sondern die nur noch der Anschauung dienen und damit in die Sphäre von Ästhetik und Bedeutung überführt werden.

Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang durch die Zerstörung der ursprünglichen Form thematisiert wird, ist die Auflösung der Barriere von Innen und Außen. Die Isolation und Anonymisierung, die durch die weitgehende Abkapselung der Fahrerkabine entstehen, sind durchbrochen und das sich entwickelnde individuelle Innenleben des Objekts kann mit dem Außen in Dialog treten.

Damit korrespondieren auch die Bilder, auf denen ganze Landschaften aus verbranntem und abblätterndem Lack wiedergegeben werden. 

Zunächst haben wir auch hier durch eine Verletzung der Oberfläche die Schwelle von der Serialität zu Individualität überschritten. Die gesichtslose Oberfläche ist durch die Einwirkung der Flammen aufgebrochen und hat eine gänzlich eigenartige und unverwechselbare Gestalt angenommen. 

Wie bei dem freigelegten Innenleben der Autos entfaltet sich statt der reinen, entindividualisierten Funktionalität eine intrinsische Wirklichkeit: Die Zeichnungen gleichen Satellitenbildern von einmaligen Landschaften, durch die man mit Blicken wandern kann; die keinen linearen Zeitpfeil mehr beschreiben, sondern eine unendliche Zahl von Möglichkeiten und Zeitdauern zulassen.

Und ebenso wie die ausgebrannten Automobile ihre Grenze zwischen Innen und Außen verloren haben, so sind auch diese Bilder nicht durch Rahmen begrenzt. Die der Erosion und damit der Veränderung preisgegebenen Lacklandschaften setzen sich im Geiste auch jenseits des willkürlichen Bildausschnitts fort.

So begegnet uns in allen Werken der Ausstellung die Polarität von Serialität und Individualisierung wieder, das Spannungsverhältnis von makelloser, funktionaler und zeitloser Oberfläche und deren Zerstörung, die die jeweilige intrinsische Wirklichkeit freilegt und sie der Vergänglichkeit preisgibt, unter deren Einfluss sich Anhaltspunkte individueller Sinngebung und Bedeutungszuweisung und damit Anhaltspunkte der Identitätskonstruktion entwickeln können.

 

»Give them an inch, they take a yard;

Give them a yard, they take a mile;

Once a man and twice a child

And everything is just for a while.

It seems like: total destruction the only solution.«

Bob Marley, Real Situation

 

 

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2018