19. September 2018

Sprungbrett ins persönliche Nirwana

Tommy Høvik, Digitalcollage, 2018, unter Verwendung der Arbeit 1992–2017, 2017, Betonabgüsse diverser Alkoholika auf Azul-Macaubas-Granit, 187 × 60 cm
Tommy Høvik, A nest on the waves of the sea, 2017, Neonskulptur, 115 × 15 cm
Tommy Høvik, Collection 422, 2007–2017, wasserdichte Metallbox mit 422 CDs, 60 × 60 × 60 cm
Tommy Høvik, „A nest on the waves of the sea“, Kulturkirken Jakob, Oslo, Ausstellungsansicht, v.l.: Untitled, 2018, Papier-Assemblage; 40 × 30 cm; 1992–2017, 2017, Betonabgüsse diverser Alkoholika auf Azul-Macaubas-Granit, 187 × 60 cm; Epikrise 2016, 2017, getöntes Glas, Hemd, Textdruck, 187 × 60 cm; im Hintergrund: Blackout Poetry, 2017, bemalte Disco-Kugel, Damenschuh/Betonguss, Spotlight, Maße variabel
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht, v.l.: 1992–2017, 2017, Betonabgüsse diverser Alkoholika auf Azul-Macaubas-Granit, 187 × 60 cm; Collection 422, 2007–2017, wasserdichte Metallbox mit 422 CDs, 60 × 60 × 60 cm; A nest on the waves of the sea, 2017, Neonskulptur, 115 × 15 cm; im Hintergrund: Seasons change, mad things rearrange, 2017/18, 77 Polaroids, gerahmt
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: Epikrise 2016, 2017, getöntes Glas, Hemd, Textdruck, 187 × 60 cm
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: Untitled, 2018, Papier-Assemblage; ca. 40 × 30 cm
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: The Dance, 2017, Papier-Assemblage; ca. 40 × 30 cm
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: Blue Nude, 1993–2018 (Detail), Metallbügel, Gipsabguss, Aluminiumclips, Collage, Maße variabel
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: Bouquet, 2017 (Detail aus Elevated Summer, 2017), Foto, gerahmt, 60 × 50 cm
Tommy Høvik, Ausstellungsansicht: Seasons change, mad things rearrange, 2017/18, 77 Polaroids, gerahmt

 

Zu Arbeiten von Tommy Høvik 

 

Arbeiten von Tommy Høvik zielen auf eine spirituelle Dimension und haben auf mehr oder weniger verborgene Weise oft auch den Charakter von Selbstporträts.(1) Denn sie beziehen sich auf teils sehr persönliche Erfahrungen und Lebensphasen des Künstlers, die er darin zum Ausgangspunkt ästhetischer Transformationen werden lässt. Høvik arbeitet in unterschiedlichen Medien, das Spektrum reicht von Fotografie über Skulptur, Objet trouvé, Collage und Assemblage, Video bis Zeichnung. In Ausstellungen arrangiert er Werke meist zu räumlichen Ensembles, sodass sie auf diese Weise in kommunizierende Verflechtungen ausstrahlen. 

Die Neonskulptur A nest on the waves of the sea (2017) etwa lässt den gleichlautenden Ausstellungstitel wie ein poetisches Leitmotiv im Raum erstrahlen – und bringt ihn über den Lichtschein intuitiv auch mit anderen Werken in Berührung. Für Høvik ist die Zeile buchstäblich „eine Metapher für Erleuchtung“(2), als präzise paradoxes Sprachbild imaginiert sie einen dynamischen Bewusstseinszustand, der das Haltlose wogender (Seelen-)Abgründigkeit mit einer fragilen Geborgenheit verknüpft. Die metaphorisch-metaphysische Tiefendimension dieser Zeile gewinnt in Høviks übrigen Arbeiten oft enorme plastische Präsenz – etwa in Collection 422 (2007–2017): Auf den ersten Blick ein aus dem Wasser geborgenes Fundstück, ein geschlossener, mit Aufhängung versehener Metallkubus, der starke Verkrustungen und blühende Rostflächen aufweist. Der oxidative Bewuchs macht ihn zu einer Art materiellem Zeitindex, und dass das Objekt überhaupt zu sehen und präsent ist, macht als lebensgeschichtlicher Hintergrund einen Gutteil seiner Bedeutung aus. Es handelt sich um einen wasserdichten Metallbehälter, der Høviks komplette, 422 Titel umfassende CD-Sammlung aus dem Jahr 2007 enthält und den er damals im Geiste Albert Camus’ und in einer Art Gefühlsexperiment im Fjord vor seiner Heimatstadt Trondheim in 47 Meter Tiefe versenkte. „Ich wollte erleben“, so der Künstler, „wie es sich anfühlt, etwas so Persönliches wie meine CD-Sammlung mitsamt der damit verbundenen Identität und all den Erinnerungen für immer aufzugeben.“ Sie wieder zu bergen war nicht vorgesehen. Doch das Versenkte, Unzugängliche blieb auch auf Distanz aktiv. Während Høvik in den Folgejahren, auch im Zuge eine Reihe persönlicher Krisen und Verluste, etwa den Tod der Mutter 2010 und den seines 16-jährigen Cousins 2011 beim Anschlag Anders Breiviks auf ein Zeltlager auf Utøya, zunehmend in depressive Zustände verfällt, reift das Bild von der rostenden Kiste am Grund des Fjords unwillkürlich zur Projektionsfläche und Metapher für diese Verlorenheit heran. Erst Jahre später gewinnt er Kraft und Willen zurück, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen, und 2017, auf den Tag genau zehn Jahre nach der Versenkung, lässt er die Kiste wieder heraufziehen – „für mich ein persönliches Ritual mit starker symbolischer Bedeutung”, wie Høvik sagt. Auf diese Weise holt er den abgespaltenen Teil seiner selbst wieder in greifbare Gegenwart – hält ihn aber auch auf Abstand, durchaus im Sinne bleibender Sichtbarkeit: Denn als Collection 422 bleibt die Box verschlossen, von Rost gezeichnet und die Musik – bis auf eine am Boden der Box eingravierte Playlist – unverfügbar. Dadurch entlässt Høvik das, was ein Repräsentant persönlicher Geschichte und emotiver Aufladung war, in den Status eines Imaginationsobjekts, vielleicht im Gestus einer „Verklärung des Gewöhnlichen“(3), in der sich das unmittelbar dinghafte, historische Objekt in das ästhetische verwandelt, es nicht mehr bloß Objet trouvé, sondern über etwas (Dantos „aboutness“) ist, also eine Sprache spricht, ein Bild ist, kurz: einen ontologischen Abstand zur Realität konstituiert. Im Umgang mit derart imaginativ aufgeladenem Material hat Kunst für Høvik durchaus das Potenzial zu religiöser Erfahrung (was übrigens auch in Dantos Begriff der „Verklärung“ steckt, bei ihm original auf Englisch „transfiguration“) – bei Høvik ist das eine informelle, individuell erfahrbare Spiritualität. Seine Werke scheinen getrieben und getragen von einer Reflexion des Wunders und des Schreckens der lebendigen Endlichkeit, sie scheinen Geister bannen und ein Selbstgefühl – nicht selten das des existenziellen Unbehagens – aus der ästhetischen Distanz spiegeln zu wollen. 

Das zeigt sich auch in dem lakonischen Werk 1992–2017 (2017): Was auf den ersten Blick wie ein environmentales Stillleben erscheint, ist tatsächlich wiederum eine Art Selbstporträt. Eine rechteckige Steinplatte – edler, blau geäderter „Azul Macaubas“-Granit, in Höhe und Breite zugeschnitten nach dem Körpermaß des Künstlers – liegt flach auf dem Boden. Darauf verteilt steht eine Ansammlung von unterschiedlich geformten Flaschen und Getränkedosen da – in Gestalt von grauschlierigen Betonabgüssen. Keine zwei Formen gleichen einander, und jede steht exemplarisch für eine Sorte Alkohol, die laut Angaben des Künstlers „seit meinem 13. Lebensjahr ein großer Teil meines Lebens waren, bis ich im Alter von 37 Jahren aufhörte zu trinken.“ In der Reduktion auf die plastische Form bleiben die verschiedenen Sorten Rum, Pastis, Rotwein, Whiskey oder Bier ahn- oder erkennbar. Die Betonschwere dieses Erinnerungsbilds ist bereits visuell spürbar, doch in dem toten Grau erscheinen jene Geister des Vergangenen auch wie gebannt und entrückt. Høvik hat die Flaschenabgüsse in freier, locker gestreuter Ordnung auf dem erstarrten Wellengang des blauen Macaubas arrangiert – greift hier also erneut das A nest on the waves…-Motiv auf, indem er die Flaschen als durchaus problematisches nest repräsentiert. Für ihn sei 1992–2017 „wie der Abschied von alten Freunden, die am Ende nicht gut für dich waren“.

Ein weiteres für Høvik typisches Verfahren poetischer Erinnerungsarbeit, das er ab 2010 beginnt, zeigt sich in den Papier-Assemblagen wie in The Dance (2017) oder Untitled (2018). Auf kleinem Format schichtet er Bilder und kurze Texte – Fundstücke, Privates, Handschriftliches –, und das Ergebnis ist eine Art konzeptionelles Tagebuch, subjektiv, intuitiv und oft geknüpft an existenzielle Themen. Untitled etwa zeigt Høvik noch als Teenager mit seiner inzwischen verstorbenen Mutter, und seine handschriftliche, dünne Bleistift-Notiz darunter („Hope you can see that things are much better now 2018“) ist eine Botschaft an sie. Bei Arbeiten dieses Typs verleiht das unregelmäßige Übereinanderschieben der Papiere unterschiedlicher Stofflichkeit und individuellen Formats dem obersten Blatt ganz buchstäblich eine „Geschichte“: Die Schichtung unterfüttert die Präsenz des Bilds mit stofflichen Erinnerungstriggern – für ein solches fragmentarisches Schreiben und Abbilden als Materialisierung emotiver Zustände gibt es auch literarische Verwandtschaft von Friederike Mayröcker bis Arno Schmidt –, und wie bereits in Collection 422 verstellt das akkumulative Verfahren auch hier bewusst den Blick, indem es das Material für Imagination erschließt. Für Høvik bedeuten die Blätter real Durchlebtes, und sie nun Stück für Stück zu überdecken, heißt, sie ins Erinnern zu verschieben – aber auch, eine nicht mehr sichtbare Geschichte zu schreiben, von der nur noch das Deckblatt kündet. Der Rest ist überantwortet an Vorstellungskraft und Empathie – vielleicht so etwas wie das Proust’sche Moment in Høviks Erinnerungsarbeit. 

Eher flaneurhaftes Beobachten und eine Art apparative Unmittelbarkeit scheint für Seasons change, mad things rearrange (2017/18) prägend zu sein. Es handelt sich um 77 Polaroids aus einem größeren Fundus, die Høvik im Laufe etwa eines Jahres bei Wanderungen aufgenommen hat: Landschaftsfotografie durch die Jahreszeiten, Seasons change, Waldeinsamkeit, Bäume vor Bäumen oder solitär vor lichtweitem Horizont, Seen, Seerosen, und nur selten ein Mensch, etwa als Rückenansicht in einem Kanu. Das Momenthafte der Wahrnehmungs- und Naturpräsenz passt zum Unikatcharakter des fotografischen Mediums. „Nachdem ich aufgehört habe zu trinken und hart zu feiern, habe ich das durch Naturerlebnisse ersetzt“, kommentiert der Künstler die Entstehung dieser Werkgruppe. Der Titel ist, wie bei Høvik häufiger, einer Songzeile entnommen, und zwar aus How many mic's (1996) von den Fugees – ein Coversong mit komplexem, treibendem Sound, der pusht und so auch in seltsamem Kontrast zum erhabenen Naturgefühl der Bilder steht.

Ein anderes Beispiel für Høviks Umgang mit stark persönlich aufgeladenem Material findet sich in Blue Nude (1993–2018). Die zweiteilige Arbeit besteht aus dem Gipsabguss einer männlichen Brust im charakteristischen Yves-Klein-Blau, auf dessen Innenseite über die gesamte Breite zwei flache Metallbügel verlaufen, sowie einem Rechteckformat im selben Blau mit aufcollagiertem Schwarz-Weiß-Foto. Das zeigt einen jungen, muskulösen Mark Wahlberg in den 90ern, wie er mit aufgepumpter Brustmuskulatur für Calvin Klein posiert. Lässt Ersteres an Körperporträts von Künstlern wie Matisse, Picasso, am offensichtlichsten aber an Yves Kleins Reliefs denken, kontrastiert Høvik das mit einer popkulturell prägenden und klischierten „Idealfigur“. Tatsächlich hat auch das einen persönlichen Hintergrund: Beim Körperabguss handelt es sich um Høviks Brust, und die innenliegenden Metallbügel entstammen einer Operation, der er sich 2005 unterzogen hatte. Als Jugendlicher litt er unter einer milden Form von pectus excavatum, der sogenannten Trichterbrust – und sah in Wahlberg damals den Prototypen eines idealen männlichen Körpers. Er ließ sich die beiden Metallstäbe implantieren, trug sie drei Jahre lang im Körper. So geht es hier erneut um den bildhaften Umgang mit stark persönlich geprägtem Material. Während Høvik dadurch die Erfahrung von Stigmatisierung/Ästhetisierung des eigenen Körpers plastisch rekapituliert, wird diese Geschichte auch zum Ausgangspunkt ästhetischer Transformation.

Auch die übrigen Arbeiten der Ausstellung bewegen sich überwiegend in physisch-psychischer Grenzgängen und -erfahrungen. In Epikrise 2016 (2017) lehnt eine dunkel getönte Glasscheibe von 187×60 cm (erneut das Körpermaß des Künstlers also) aufrecht an der Wand, unterm Glas hängt ein blaues Business-Hemd. „Ich habe das viele Male getragen, um professionell zu wirken und meine Depression zu verbergen“, sagt Høvik, und auf dem Rücken des solcherart gefühls- und erfahrungsgesättigten Kleidungsstücks sind ein paar Zeilen aus dem Gutachten zu lesen, das ein Psychologe nach der im Titel benannten, tatsächlichen „Epikrise“ über den Künstler angefertigt hatte. Elevated Summer (2018) handelt auf andere Weise vom Ausflug in Grenzerfahrungen. Zu sehen sind ein großformatiges, sommerlich-idyllisch wirkendes Landschaftsfoto, dazu ein weiteres Hochformat mit umfangreichem Text auf psychedelisch gemustertem Grund sowie mehrere kleine, einzeln gerahmte Blätter mit lichten, teils wirr wirkenden Malereien, Zeichnungen, Assemblagen, handschriftlichem Texten und Fotos. Die Arbeit steht exemplarisch und von allen Werken vielleicht am direktesten für Høviks anhaltendes Bedürfnis nach extremen Erfahrungen. Der Text berichtet in schonungsloser Klarheit von einem Campingausflug, den Høvik gemeinsam mit seiner Freundin in die Abgeschiedenheit der Wälder unternahm, und auf dem beide erstmals LSD probierten – und dabei auf einen gefährlich schlechten Trip gerieten. Die Blätter entstanden unter Einfluss der Droge, die Fotos zeigen den Ort des Geschehens. Es war die Erfahrung eines dramatischen Verschwindens von Realität, und „obwohl ich während dieser Reise einige interessante Perspektiven und visuelle Eindrücke hatte“, so endet Høviks Erfahrungsbericht eher sachlich, „war es eine der intensivsten und traumatischsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens“. 

So zeugen Høviks Arbeiten auf die eine oder andere Weise von innerem Aufbegehren, sind eine Anrufung des Ewigen, sind Selbstporträts stetiger Unruhe – und suchen zwischen Angstgrundierung, Befreiungsrausch und spirituellem Naturgefühl das Sprungbrett ins persönliche Nirwana.

Jens Asthoff

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(1) Anlässlich von Tommy Høviks Ausstellung „A nest on the waves of the sea“ in der Krypta der Kulturkirken Jakob, Oslo (14.–23. 9. 2018, jakob.no), erschien der vorliegende Text in englischer Übersetzung. Siehe auch tommyhovik.com.

(2) Alle Zitate: der Künstler in einer E-Mail an den Autor vom 17.8.2018

(3) Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M., 1984 [orig.: The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge, Mass. 1981]