31. Januar 2004

Rückkehr der Identität

 

Die Abhandlung des Italieners liest sich wie ein auf den Kopf gestelltes humanistisches Traktat. Im Zentrum steht nicht der Einzelne, dem angesonnen wird, sich um die allseitige Ausbildung seiner Anlagen und Fähigkeiten zu kümmern, sondern der um alles Kulturelle auf seine nackte Haut reduzierte Mensch im Bannkreis einer souveränen Macht. Kaum hat man sich im Westen daran gewöhnt, ein menschliches Leben nicht erst als bloßen biologischen Körper, der dann kulturell beschriftet wird, zu sehen, mutet Agamben dem Leser zu, sich als „nackten Menschen“ zu begreifen. Es ist nicht die Nacktheit des Sex, sondern die Schutzlosigkeit des Flüchtlings oder zentral das Leben im KZ, das auf Gedeih und Verderb einer biopolitischen Macht ausgeliefert ist.

Die These, mit der Agamben überall auf taube Ohren gestoßen ist: Das „Lager“ ist die verborgene Matrix der Moderne. Wir alle sind KZ-Häftlinge. Virtuell, das ja, aber trotzdem prinzipiell. Eine solche Behauptung geht nicht ganz ohne Übertragungsverstärker ab. Mit Carl Schmitt nennt Agamben Souverän, wer über den Ausnahmezustand befiehlt. Man mag Hitlers Erlangung der Macht Erschleichung oder Ergreifung nennen, sie war jedenfalls legal. Agamben macht dann darauf aufmerksam, dass der 1933, einige Monate nach der Ernennung Hitlers zum Kanzler, in Anspruch genommene Notstandsparagraph niemals für beendet erklärt wurde. Die zwölf Jahre waren also ein einziger Ausnahmezustand. Und in dem gilt definitionsgemäß: anything goes.

In den Befehlen des Führers verschwammen Fakt und Norm zu einer untrennbaren Einheit. Dem Souverän stand gegenüber millionenfaches nacktes Leben, zu dem prinzipiell auch jeder „Volksdeutsche“ gehörte, das aber natürlich vor allem repräsentiert wurde durch die Juden. Eine der Pointen des Buches besteht nun darin, dass es sich bei der Tötung der Juden nicht um einen Holocaust gehandelt habe, also um eine Art des Opfers, sondern um den Versuch einer biopolitischen Produktion eines homogenen Volkskörpers. Homo sacer (heiliges Leben) ist eine Figur aus dem römischen Strafrecht und meint ein tötbares, aber nicht opferbares Leben. Was auch immer es mit dieser Figur auf sich hat (eingeschlossen die Frage, ob sie so einfach auf heutige, moderne Prozesse übertragbar ist; überhaupt: was heißt genau, etwas dürfe nicht geopfert werden??), Agamben geht es darum, analoge Räume der Ununterscheidbarkeit wie der oben genannten von Fakt und Recht oder Innen und Außen oder der von gesund und krank aufzuzeigen. Die deutsche „Rasse“ galt es damals reinzuhalten, gleichwohl erkannte man sie auch als „Schicksal“ also als irgendwie gegeben, mithin zufällig, kontingent. Nationalsozialistisch wurde aus dem Schicksal zugleich eine Aufgabe, das wurde etwa dann wichtig, wenn deutsch-rassische Erbkrankheiten auftauchten, die es aus dem Volkskörper zu exstirpieren galt. Gegenüber dem Souverän, dem Führer, war prinzipiell also niemand sicher, jedem konnte es passieren, mit einem Stigma, das souverän einfach produziert werden konnte, behaftet zu sein, auch wenn die Gesinnung absolut stimmte. In dem Moment war man homo sacer, ausgeliefert.

Die anstößigste These des Buchs besteht darin, dass totalitäre und demokratische Staaten in der Produktion des homo sacer „insgeheim“ solidarisch seien. Das habe damit zu tun, dass auch Demokratien biopolitisch agieren, das heißt ebenfalls scheinbar herrschaftsfreie Räume herstellen, deren Behandlung am bequemsten dezisionistisch erfolge durch die Etablierung einer bestimmten Terminologie. Darüber hinaus trage die Auflösung des traditionellen Nationalstaatskonzepts zur Aufweichung und Problematisierung zum Beispiel von Bürger- und Menschenrechten bei. Es gibt keine sicheren Zonen mehr. Agamben ruft dazu auf, gewissermaßen den Ausnahmezustand zu beenden und die Herrschaft der Freigabe menschlichen Lebens in der Form des homo sacer neu zu überdenken. Wie das geschehen soll, weiß auch er nicht zu sagen, vieles in dem Buch ist ziemlich wirr. Ob sich darin was findet, was anregend genug ist, um es in anderer Begrifflichkeit weiterzudenken? Wo steckt der Feind, im System, im Gen, im Mem?

 

Dieter Wenk

 

Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt 2002