29. Juni 2018

»Josef Scharl war kein Malgenie«

 

… oder: eine Zeit lang, in einem ganz bestimmtem Licht. »Er war …. weder Visionär noch Exzentriker, Erneuerer oder Avantgarde«, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung anlässlich dessen Mini-Retrospektive im Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen. »Josef Scharl, das legen seine Bilder wie sein Lebenslauf nahe, war ein sehr anständiger Mensch mitfühlender Art, der die gute Moral hochhielt. Er porträtierte Arme, Bettler, misshandelte ›Dirnen‹, müde Bauern mit schiefem Mund und blinde Kriegsheimkehrer, und zwar nicht als bemitleidenswerte Opfer, sondern in aufgerichteter Position und ernster Würde«, geht es weiter im Text. Meine Erstberührung mit Scharl fand letztes Jahr in der »Glanz und Elend in der Weimarer Republik«-Ausstellung in Frankfurt am Main statt. Wie Briegleb war auch ich tief beeindruckt von jener »ernsten Würde der Gezeichneten«. Mein Schlüsselerlebnis hieß »Geschändete Dirne«, dessen Titel ich erst las, nachdem mich das Bild eine Zeit lang magisch gefesselt hatte. Leider war gerade dieses Bild nicht in der Bremer Ausstellung zu sehen. Wie also setzt sich der JS-Code zusammen, dass es einem Chor von Schreibern locker über die Lippen geht, von ernster Würde in Zusammenhang mit nahezu expressionistischer Malerei zu sprechen.

Man muss außer sich sein, um die verknoteten Finger, den verrutschten Mund, die Würgemale am Hals, die Brandlöcher im Schenkel, die geschwollenen Füße der Feldarbeiterin dermaßen überzeugend malen zu können, und gleichzeitig ganz bei sich. Eine Zeit lang, in einem ganz bestimmten Licht. Hässlichkeit wurde in den 1920er Jahren als Realismusprinzip entdeckt, der Umgang mit ihr ist so vielfältig wie die Künstler. Grosz und Dix, die großen Stilisten jener Zeit, konnotierten ihren Realismus mit Ironie und Sarkasmus, oft in Verbindung mit sexualisierter Gewalt. Josef Scharl war da anders. Birgt Ironie die Möglichkeit, sich über die Wirklichkeit zu erheben, und Engagement, sich einzumischen, so birgt Erstere die Gefahr abzustürzen, Zweitere, in ihr zu ertrinken. Umso bemerkenswerter der JS-Code. Bemerkenswert, auch wenn er, stilistisch betrachtet, die Orientierung, oft schülerhaft epigonal, an Bewährtem, von Carracci bis zu van Gogh suchte, während die Avantgarde mit Formen der Abstraktion kämpfte.

Die Dirne blickt, in leichter Aufsicht, den Betrachter frontal, fast dokumentarisch im Sinne August Sanders, distanziert an. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, nackt, ihr Körper umrahmt von gelben Stoff. Ihr frontaler Blick aus dem Bildraum auf den Betrachter, hier ist nicht jener von Walter Benjamin bezeichnete Verkaufs- und Hundeblick, wie man ihn aus der Werbung kennt, zu sehen. Hier soll einem nichts verkauft werden. Hier wird man auch nicht über den Anblick der Geschändeten in eine nach Mitleid heischende Komplizenschaft verstrickt, sie wird nicht zum Malgegenstand, sie behält ihre Würde. Sie wird kein zweites Mal, jetzt als Abbild, zum Objekt der Begierde. Der JS-Code ist eine artistische Mischung aus Distanz, bei gleichzeitiger Nähe zum Subjekt, raffiniertem Malhandwerk und einfachem Bildaufbau. Er ist ein artistischer und artifizieller Balanceakt zwischen Inhalt, Geste und Form. Handwerklich, meint malerisch, steigt die Figur der Hure aus einem Meer von getupften Farbstrudeln auf, in dem die blau-rot-grünem Würgemale als Verweise auf den Expressionismus gelesen werden könnten. Dies jedoch erst auf den dritten Blick. Erst nachdem man an die Person und ihre Geschichte gedacht und nun versucht, sie kunstgeschichtlich einzuordnen. Eben erst dann, wenn man die Pein der Empathie zu bändigen versucht. Doch wehrt das Bild sich durch Kippen ins allzu Persönliche gegen diese geschichtliche Einordnung. Dabei hat auch der Titel »Geschändete Dirne« seinen Anteil. Und er zeigt Scharls Anspruch auf eine vollständige Darstellung der Realität. Rasiert und gewürgt, mit Blut unterlaufenen Augen blickt einen die gar nicht schöne Frau selbstbewusst, frontal an. Der Blick erfüllt von Persönlichkeit, weit weg davon, Opfer der eigenen Geschichte zu sein, hat sie sich bereits wieder geschmückt, nicht für den nächsten Freier, vielleicht fürs Porträt, mit Kette und Ohrringen, um sich zu zeigen, ihr Bild selbstbewusst zu bestimmen.

Der JS-Code setzt sich aus all diesen und, wer weiterforscht, sicherlich noch mehreren Feinheiten zusammen. Ein künstlerischer Akt, der Gang auf einem Drahtseil, bei dem der Künstler jeden Moment hätte abstürzen können, genial ausgewogen, aus der Mitte des Körpers.

Der JS-Code gehört genetisch gesehen zum Genre der Elendsmalerei, von Hirtenbildern, über Georges de la Tours »Erbsenesser«, den Verismus, bis zu van Gogh. Heute bestimmen Film und Fotografie als bildgebende Medien unsere Elendsbilder. Nach einem Jahrhundert Avandgardescharmüzel und Fortschrittsglaube ist es eine Wohltat, wieder einmal genau hinsehen zu müssen, um als Belohnung eine geniale Lösung präsentiert zu bekommen. Das Gleiche gilt für die Bilder der Bremer Schirmherrin Paula Modersohn-Becker. Nach 40 Jahre femininen Posterkitsch sind auch diese Bilder wieder einmal neu zu entdecken. Wer heute arm ist, ist selbst schuld, nichts aus seinem Leben gemacht zu haben, die falsche Wahl getroffen zu haben, heißt die Ideologie. In diesem Sinne ist es politisch unerwünscht, Stolz, Armut und Würde zusammen zu denken. Auch das sagt uns der JS-Code. Und auch das ist sein Genie, diesen ideologischen Code einmal mehr sichtbar gemacht zu haben. Eine Zeit lang, in einem ganz bestimmten Licht.

Christoph Bannat

Josef Scharl. Zwischen den Zeiten 
Ernst-Barlach-Haus, Hamburg 
17. Juni – 21. Oktober 2018