24. März 2018

Kindliche Gesten

André Butzer, Detail, Friedens-Siemens XIV
Tommi Musturi, Sozusagen Samuel, Reprodukt
Jonathan Meese, Porträt 2007
Tommi Musturi, Sozusagen Samuel, Reprodukt
Tommi Musturi, Sozusagen Samuel, Reprodukt
Tommi Musturi, Sozusagen Samuel, Reprodukt
André Butzer, Detail, N-Himmel (technologische Erinnerung)
Ausstellungsansicht Mutter, Jonathan Meese, Tal R
David Shrigley, ohne Titel
Marcel Eichner, Dirty Harry
Buchtitelumschlag, Transcript Verlag 2017, Bielefeld, Band 111



Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.*1


Und es ward die Zeit, da Jonathan aus Meese griff zu dem Pinsel hin und setze Fleck an Fleck, welcher selbst da ist Signet für Natürlichkeit, geworfen in die Welt, seit es gibt Erz und Ur und Szene, welche da machet die gegebene Malweise, welche Gott gegeben, welche nun die drei Einfältigkeit des heiligen aus Meese und der Hand, welche Gottes und des Pinsels ist.


Nun ward aber Maria Larissa aus Kikol, welche gebar einen Knaben namens Kritik aus Akademien. Maria nun zog nach Meese und predigte das Wort des Postman aus Neil, welches da sagt: Du sollst nicht malen, weder Weib noch Mann, ohne Sinn noch Verstand.

Kein Schiller, kein Kant, kein Hegel, kein Lacan, weder Luhmann, Bourdieu, Badiou oder Foucault, sondern Postman, Neil Postman. Die Älteren kennen noch seinen Feuilleton-Aufreger »Wir amüsieren uns zu Tode«. Larissa Kikol schließt Postman in ihrer Dissertation »Tollste Kunst« kurz mit unter anderen André Butzer, Tal R., Jonathan Messe, Günther Förg, David Shrigley oder der Künstlergruppe Gelatin. Und kontrapunktiert diese mit Künstlern der Nachkriegszeit wie Jean Dubuffet, Asgar Jorn oder der Malergruppe Cobra. Ihr Hauptthema ist die Konstruktion des kindlichen in Kunst und Gesellschaft. »Tollste Kunst« ist eine lesenswerte Dissertation von Larissa Kikol, Schülerin des zurzeit viel gelesenen Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich. In diesem Zusammenhang geht sie auch kurz auf Comics als kindliche Bilderwelt ein. In der Hauptsache aber zeigt sie einen kunstgeschichtlichen Weg, allerdings nur sehr andeutungsweise. So fehlt Philippe Ariès’ Standardwerk »Geschichte der Kindheit«, der die Entdeckung der Kindheit als Wachstums- und Bewusstseinsphase in das frühe Mittelalter verlegt. Ariès geht von der Darstellung des Kindes als Stellvertreter für Unschuld und Reinheit aus. Larissa Kikol nun zeigt den Weg von der malerischen Darstellung hin zur kindlich-malerischen Geste. Eine symbolische Geste, die u.a. für Unbefangenheit, Wildheit, Einfachheit, Originalität und Authentizität steht. Eine Geste, die aber auch nur auf der Kindheit als Konstruktion beruht, wie sie immer wieder betont. Dass sie dabei Postman und nicht Luhmann als Referenz aufstellt, verwundert, da »Kind als Medium der Erziehung«*2 von Niklas Luhmann bei dieser Dissertation auf jeder Seite mitschwingt. Larissa Kikol behandelt zwar nur die Nachkriegsmoderne, doch Luhmann zeigt genau, wo diese beginnt. Für ihn beginnt diese mit dem Übergang von der Herkunft bestimmten zur allgemeinen Bildung, für die dann eben auch allgemein gültige (Bildungs-)Ideale entwickelt werden mussten. Gebildet werden soll das Kind.


Wenn Larissa Kikol am Ende ihrer Dissertation die Gesten ihrer malenden Zeitgenossen als inhaltsleer beschreibt, auch im Gegensatz zu Nachkriegskünstlern wie Dubuffet, die noch etwas wollten, prallt eben genau das allgemeine Bildungsideal des besseren Menschen auf das des demokratisch geführten Kapitalismus. Während Schiller und Goethe einerseits die Selbstbildung mit Blick auf eben jenen besseren Menschen feierten, darf der kindliche Maler von heute sich eben nicht weiterbilden, was immer dieses »weiter« heißen mag. So darf er nicht einmal im malerischen Sinne besser werden. Oder kann es auch nicht, da hier die ständische Tradition fehlt. Haben malerische Produkte sich am Markt bewährt, sollte sich ihr Wiedererkennungswert nicht ändern. Hier setzt Kikol an, führt aber leider nicht weiter. Das alte Bildungsideal wird eben nicht mehr gelehrt, da die Professoren genauso befangen im Dunkeln tappen wie ihre Schüler. Luhmann zeigt in seinem Aufsatz, wie die mächtigen Erwachsenen sich eine Kindheit konstruieren, auf die sie ihre Bildungsideale projizieren können. Und er zeigt, wie ständische Bildung, also die Weitergabe von Wissen zum Erhalt der ständischen und genetischen Herkunft, auch Tradition genannt, im 18 Jh. mit der Aufklärung und dem Ideal der allgemeinen Bildung einen Bruch erfährt.

 

Betrachtet man nun die Kunsthochschulen, die erwähnten Künstler haben alle diese durchlaufen oder besucht, als ständisch, fragt man sich, welches Wissen hier eigentlich trainiert und weitergegeben wurde. Schnell kommt der Verdacht auf, dass hier nur künstlerische Gesten weitergegeben werden. Hat man einmal seine künstlerische Geste gefunden, und Larissa untersucht die kindlichen Gesten im Feld der Kunst, und haben einige Händler in diese investiert, ist es schwer, diese wieder zu verlassen, selbst wenn man »besser« wird. Denn wer bestimmt, was besser ist, da es keine (ständische) Tradition mehr gibt, was das Kennzeichen der Moderne ausmacht?

 

Jetzt heißt es: Was gut ist, setzt sich durch, und was sich durchsetzt, ist gut. Dabei gibt es zwei Markttypen: jene, die eine Produktlinie lebenslang durchhalten (müssen): Meese, Butzer, Tal R. Sie verkörpern die kindliche Geste als imaginäres Ideal. Und jene, die sprunghaft Zusammenhangloses, in erkennbare Werkblöcke oder -phasen zerlegt, durch ihren Namen als Markenzeichen zusammenhalten wie Günther Förg und Jeff Koons. Bei Letzterem tritt die Kinderwelt dann nicht als Geste, sondern phänomenologisch als lebenslanger Kindergeburtstagsspaß in Erscheinung. Mit dieser Buch geht es mir wie mit mittelmäßigen Bebop-Platten, sie verweisen auf bessere und schlechtere. Und dafür liebt man sie, dass man beim Hören durch die Schichten der Geschichte wandelt.


Christoph Bannat


Larissa Kikol: Tollste Kunst - Kindliche Ästhetik in der zeitgenössischen Kunst

Transcript Verlag 2017

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon

 

 

 


*1, Der Rangstreit der Jünger Mt. 18: 1–5, Bibelübersetzung: Lutherbibel 1984.

* 2, Niklas Luhmann: Das Kind als Medium der Erziehung, Suhrkamp 1991.