30. Dezember 2017

Die Architektur von Alfred Neumann

 

Der israelische Architekt Alfred Neumann war nicht nur ein einflussreicher Lehrer, unter anderen sind Moshe Safdie und Zvi Hecker seine Schüler, er hat in seiner recht kurzen architektonischen Laufbahn ein extrem eigenwilliges Werk an Gebäuden hinterlassen. Bereits 1968 verstorben, galt er Größen wie Le Corbusier oder Walter Gropius als einer der wichtigsten zeitgenössischen Architekten überhaupt, der in seiner Heimat Israel mit dem jungen Staatswesen und Bestrebungen nach einer neuen Identität ein weites Feld hat bespielen können – mit strukturalistischen Gebäudeideen, die mehr noch als ihre holländischen und internationalistischen Zeitgenossen eine kompromisslose Radikalität haben durchsetzen können.

Seine alienhaften Entwürfe für modulare Sonnenschirm- und Pavillonsysteme vom Club Med beispielsweise oder sein Bat Yam Town Hall-Komplex sind so eigenwillig und geometrisch verpflichtend, dass sie wie an Science Fiction erinnernde Kulissen aussehen. Das gilt ebenfalls für die späten Projekte des Danciger Building oder dem Dubiner Apartment House. Die Publikation von Rafi Segal zeigt in Fotos und jeder Menge Originalplänen, wie Neumann als ein typischer Vertreter des Neuen Bauens in Europa, zum Beispiel Villen und Verwaltungsgebäude in Brünn oder Algier, ab 1949 in Israel zu einem der mutigsten Avantgarde-Architekten werden konnte. Oder in den Worten Peter Cooks: „a most experimental architect“. Dabei verzichtet Segal leider auf heutige Bilder zugunsten der damaligen Originale, sodass man nicht ohne Weiteres nachvollziehen kann, wie es um die heutige Bausubstanz bestellt ist, wie der Zeitgeist den baulich-räumlichen Kontext verändert hat. Doch ist die Grafiksammlung erschöpfend und besonders die vielen Pläne und Skizzen veranschaulichen Neumanns innovativen Ansatz des Space Packing.

Anders als Safdie, van Eyck oder Hertzberger geht es bei Neumann nicht darum, arbiträre Stapelungsweisen auszuprobieren, denen ein theoretisches Rückbau- oder Erweiterungsszenario innewohnt, sondern auf Buckminster Fullers Ideen rekurrierend, einen maximalen Jetzt-Zustand als skulpturale Aussage herbeizuführen, perfekt erschlossen und autark als eine im menschlichen Maßstab erwachsende Raumsubstanz. Der hochgebildete Neumann hat, wie in dem umfangreichen theoretischen Teil der Publikation von Segal erläutert, ebenso wie Le Corbusiers Modulor, ein eigenes, sehr komplexes Proportionssystem eingeführt, das sogenannte Em Phi. Dies ist eine Kombination aus dem Goldenen Schnitt und dem (menschlichen) Meter. Anders als in Renaissance oder jenem Modulor operiert Neumann jedoch nicht mit den Längenverhältnissen als solche über Primärkörper oder „einfachem Raummaterial“, sondern erfindet sozusagen gleich die neue Raumausgangsmaße mit, als Dreiecksgeometrien, Raumnester oder geodätische Elemente, die man so zuvor noch nicht gesehen hat. Insofern ist Neumann höchst neuartig und prinzipiell bis heute ein Vorreiter, der Systemgebäude erschaffen hat aus Ausgangsgeometrien, die sich nicht an Historisches halten, obwohl sie nach wie vor auf dem menschlichen, d. h. „ewigen“ Maßstab aufbauen.

The Architecture of Alfred Neumann zeigt Neumanns genialisches Werk und dessen theoretische Errungenschaften erstmals in einer chronologischen Monografie und macht die „verlorenen Spuren“ eines echten Vordenkers der „Raumpackung“ wieder zugänglich. Sein Einfluss dürfte sich mindestens auf jene aktuellen Tendenzen der programmierten Architektur von heute erstrecken dürfen, wenn nicht sogar darüber hinaus.

 

Jonis Hartmann

Rafi Segal: Space Packed. The Architecture of Alfred Neumann, Park Books, Zürich 2017

 

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