27. Oktober 2017

Autobiografie

 

Jede Autobiografie ist eine Erfolgsgeschichte – auch weil sie nie tödlich endet. So ist es ist nur dem Zufall zu verdanken, dass Ulli Lust einen Mordversuch an ihr überlebte, und ihrem Kunstwillen, dass wir davon erfahren. 2009 erschien „Heute ist der letzte Tag vom Rest meines Lebens“, ihr erster autobiografischer, bis heute in über 11 Sprachen übersetzter Erfolgscomic. „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ ist ihr zweiter autobiografischer Comic und ist gerade erschienen, beide über 350 Seiten schwer, von denen jede einzelne Seite trägt. Jede Autobiografie ist eine Erfolgsgeschichte, denn hier nimmt der Autor seine Geschichte selbst in die Hand, er wird zum Gott seiner eigenen Geschichte, kennt doch nur er das Ende jeder bzw. der Geschichte. Somit ist jede Autobiografie auch immer die Geschichte einer Befreiung aus einer schicksalhaften Unmündigkeit. Und fängt nicht jede Befreiung mit der wachen Beobachtung der eigenen Geschichte an? Und befreit der Autor sich nicht davon, wenn auch nur symbolisch, seiner eigenen Geschichte hilflos ausgeliefert zu sein? Und grenzt es nicht an Wahn und Sinn, seine eigene Geschichte selbst schreiben zu wollen? So befreit der Autobiograf sich, doch macht Freiheit jenseits der Autobiografie auch Angst. Unsere Offenbarungskultur aber bietet ihm Schutz. Der Autobiograf schreibt im Schutze der Öffentlichkeit. Seine Wunden öffentlich zu zeigen, wird und ist es auch nur mit Beachtung in unserer Kultur honoriert, in Shows, Ausstellungen, Containern und Wettbewerben. Ulli Lust erzählt von ihrer dramatischen Liebesgeschichte zwischen zwei (bis drei) Männern. Kim ist ein ca. 20-jähriger „illegaler“ Schwarzafrikaner aus Nigeria. George, ein weißer Intellektueller zwischen 30 und 40 und gebürtiger Österreicher und da ist noch  Phillip, ihr Sohn, der bei den Eltern aufwächst. Emotional pendelt Ulli Lust zwischen den drei Männern. Wir erfahren von ihrer sexuellen Selbstbegeisterung und Erlebnisfähigkeit, die sie auf unterschiedliche Weise mit beiden Männern teilt. Das Drama: Kim nutzt sie und ihren sozialen Status aus und bedroht gleichzeitig ihr Leben, indem er sie schlägt und bis an den Rand der Bewusstlosigkeit würgt. In der Zwischenzeit fährt sie immer wieder aufs Land zu Philipp. Aus dieser Pendelbewegung entsteht ein Geflecht von Abhängigkeit und Schuldgefühlen, zusammengehalten durch den zitternden Willen, den eigenen Lebensfaden nicht aus der Hand geben zu wollen. Sexualität, Gesellschaft und Identität, all das was Comicautoren der 0er Jahre in ihren autobiografischen Geschichten versuchten haben, in den Griff zu bekommen, wird bei Ulli Lust um eine Drehung weitergeführt. Das erste Mal anal, das erste graue Haar und die Frage nach sexuellen Präferenzen waren im autobiografischen Comic weltbewegende Entdeckungen. Das mythenverhangene Versprechen, über die eigene Sexualität zur eigenen Identität zu gelangen, stand ganz oben auf ihrer Themenliste. Ulli Lusts Autobiografie aber ist schon jetzt über diesen pubertären Erklärungsnotstand hinweg. Mit ihrem zweiten Band kultiviert sie eine stolze weibliche Vielschichtigkeit, die längerfristig zu tragen verspricht. Interessanterweise kommt sie gerade nicht aus dem Umfeld der Autobiografen, sondern aus dem der Comicreportage, der Monogataris, für die der erzählerische Ausgangspunkt die Geschichten anderer sind. In ihrer Neuerscheinung verkörpert Kim am stärksten die „Geschichte des anderen“. Als Illegaler ist er ein personifiziertes Politikum – heute mehr denn je. Ein Politikum neben dem der Promiskuität. Stellt doch jede Übertreibung Normen infrage und ist eine potente Frau immer auch eine Bedrohung für jede männlich geprägte Gesellschaft. Ulli Lust ist potent, sie hat die Fähigkeit, sich für ihre eigene Sexualität zu begeistern, was der Leser detailreich erfährt. Ihr vorzuwerfen, Sexualität nur als einen Klebstoff, an dem alles hängenbleibt, zu benutzen, ist hier fehl am Platz. Sie zeigt Zusammenhänge auf und wie diese mit allen Zweifeln und Lustbarkeiten gelebt werden. Gleichzeitig schreibt sie stolz ihre eigene Geschichte. Schade nur, dass der expressiven Begeisterung an der Selbstbegeisterung nur „die Arbeit“ (an der eigenen Biografie?) gegenübergestellt wird. Damit ist Kunst der Link, der beides, Arbeit und Sexualität, miteinander verbinden. Kunst als Heilsversprechen, in dem sich Widersprüche und Gegensätze, wenn auch nur symbolisch, vereinen und begütigen lassen, heißt, die erlebte Sexualität erfolgreich in Buchform archiviert wird. Als wenn Sexualität nicht nur eine Sprache von vielen, wenn auch eine, die viele Lebensbereiche verbindet, ist, die gelernt und praktiziert werden muss, um lebendig gehalten zu werden. Mit diesem Comic zelebriert Ulli Lust ein bisschen den Sieg der Kunst über das Leben, die das Leben feiert. Ein tolles Buch.   

 

Christoph Bannat

 

Ulli Lust: Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein: Graphic Novel, suhrkamp taschenbuch 2017

 

 

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