Bitte weitergehen
Kleinbürger sind eher nicht diskret und schon gar nicht charmant. Sie würden sich niemals im Datum einer Einladung zum Beispiel zum Essen irren. Gelegenheiten, im großen Stil mit Drogen zu handeln, gibt es dort nicht. Und spazieren gehen im Sauseschritt würde man niemals auf schmalen, ins Nirgendwo führenden Asphaltstraßen im touristischen Niemandsland. Von Großbürgern und Diplomaten weiß man im Grunde nur sehr wenig. Das Einzige, was meist zutrifft, scheint dem Cliché geschuldet, dass die Männer alle Schurken sind, dicke Autos fahren, hässlich sind und ihr gesellschaftliches Raffinement ihnen den Zugang zu schönen Frauen verschafft, die ihre Zeit mit Repräsentation und Zynismus zubringen.
Aber das Schönste in diesen Kreisen ist die Nonchalance. Es gibt nichts, so scheint es jedenfalls, das diese Herrschaften wirklich aus der Ruhe bringen kann. Man kommt ungebeten zum Essen? Oder vom Standpunkt des Gastgebers: Die Gäste haben sich im Tag der Einladung geirrt? Macht gar nichts. Dann geht man geschlossen eben woanders hin. Dieses Verfehlen ist in diesem Film freilich kein Unikat als Auftakt für irgendwas anderes, sondern das Thema selbst. Es hört nämlich nicht mehr auf. Die Übergabe des Rauschgifts am Anfang des Films war das Einzige, was zwischen den Personen tatsächlich zum Abschluss gebracht werden konnte. Alles andere wird ausgesetzt, kann nicht zu Ende geführt werden, es scheint, als ob ein mysteriöser „objektiver Zufall“ alle Pläne durchkreuzt, die sich die sieben Protagonisten im Laufe der Zeit vornehmen. Thema mit Variationen.
Das wäre für die Dauer des Films vielleicht ein bisschen wenig, und deshalb fangen die Variationen bald an, selbst etwas Unruhe zu stiften. Als die drei Damen (Stéphane Audran, eine noch ganz junge und überhaupt nicht oberlehrerhaft wirkende Bulle Ogier sowie eine noch nicht vom Duras-Fieber angesteckte Delphine Seyrig) in einem Café sowohl auf Tee als auch auf Kaffee verzichten müssen, weil die Vorräte aufgebraucht sind, setzt sich ein Leutnant zu ihnen, und bittet darum, ihnen seine Geschichte erzählen zu dürfen, die allerdings sehr traurig sei. Es geht um nichts weniger als um Vatermord, den die Mutter des Erzählers anstiftete. Der Soldat, nachdem er seine Geschichte zum Besten gebracht hat, bittet um die Erlaubnis, sich wieder zurückziehen zu dürfen. Kein Palaver um den armen Jungen, keine Liebesgeschichte, die sich abzeichnet, aber der Film ist gleichwohl infiziert von dieser kleinen Erzählung.
Die Versuche der Protagonisten, ein gemeinsames Essen auch einmal abschließen zu können, hören nicht auf, aber sie enden jetzt sehr anders. Eine dramatische Note ist dabei, die es vorher nicht gab. Der Zuschauer wird Zeuge unverzeihlichen Verhaltens – so revanchiert sich der Colonel, der anlässlich eines Manövers mit seiner Truppe eines dieser Essen unterbrach, damit, dass er seine unfreiwilligen Gastgeber und Herbergsleute scheinbar nach Hause zu sich einlädt, in Wahrheit aber seine Gäste auf die Bühne eines Theaters platziert, als ob sie Akteure eines grausamen Happenings wären. Etwas später befinden sich die Helden des Films tatsächlich beim Colonel, aber diesmal wird seine Exzellenz, der Botschafter von Miranda (Fernando Rey), heimtückisch nach den offenbar katastrophalen gesellschaftlichen Verhältnissen dieses Landes gefragt und die Situation eskaliert so weit, dass der Botschafter seinen Gastgeber erschießt.
Aber eben, aus Geschichten sind mittlerweile Träume geworden, die mal der eine, mal der andere der Protagonisten träumt und die auch vom Thema der so ansteckungsreichen Geschichte des Leutnants betroffen sind – so wird zum Beispiel auch der gärtnernde Bischof zum Mörder am Mörder seines Vaters. Aber immer wieder wachen die Helden aus ihren Träumen auf, und sie haben noch einen weiteren Aufschub, der ihr Schicksal besiegelt, und natürlich eine weitere Gelegenheit, dass endlich einmal ein Essen gelinge. Und so ganz nebenher zeigt der Film in einer der letzten Einstellungen, dass der Weg vom Großbürger zum Kleinbürger oftmals nur in einer Handbewegung besteht, die der Großbürger zumeist unterlässt, die ihn aber nicht weniger charakterisiert als den Bürger schlechthin, dem es am besten geht, wenn er mampfend ein dickes Stück Steak zwischen den Kiefern hat und es ihm schnurz egal ist, was auch sonst noch nebenher passiert.
Auch diese Wahrheit gibt es natürlich nur im Traum und als Alptraum, ganz zum Schluss sind sie schon wieder unterwegs, on the road, und man weiß immer noch nicht, wohin es diese Leute treibt, wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht, aber das wissen sie mit sehr viel Haltung nicht, nonchalant.
Dieter Wenk
<typohead type=2>Luis Buñuel, Der diskrete Charme der Bourgeoisie, Italien/Spanien 1972</typohead>