Gigantin der Normalität
„Birgit“ von Max Baitinger, bei Reprodukt erschienen, ist eine tiefe Fundgrube ästhetischer Verrätselungen und ihren dahinterliegenden Ideenwelten. Dabei ist „Birgit“ gar keine richtige Geschichte. Es ist eine Art szenisches Nuancenspiel aus dem Büroalltag, von eben jener Birgit. Birgit ist Diskette, während ihre Vorgesetzte bereits CD-Rom ist. Wer kennt nicht die Angst der Übergänge bei technischen Neuerungen. Die Angst, den neuesten Stand, die neuesten Programme und Medien zu verpassen, ganz zu schweigen von der Angst, diese nicht zu beherrschen. Davor aber hat Birgit gerade keine Angst, denn sie ist im Besitz der Macht der Gewohnheit. Sie war schon immer da, an diesem Büroplatz, und wird es noch sein, wenn eines Tages Computer und Programme antiquierte Fremdwörter sein werden. Birgit ist das Gesetz der menschlichen Trägheit und damit eine feste Größe, an der sich jeder Fortschritt die Zähne auszubeißen hat. Jeder kennt diesen Typ. Sie hat die Old-School-Ruhe einer Unkündbaren. Gleichzeitig ist sie die Vertreterin eines überkommenen Sozialstaats, jenseits neoliberaler Selbstoptimierung. Was aber haben in diesem Zusammenhang die Brueghel-Zitate auf dem Innencover zu suchen, zumal sich das Rot, neben einem zartem Gelb, Schwarz und hellem Türkisblau schon im ersten Bild in Birgits Mund wiederfinden, während ihre Augen hinter der 70er-Jahre-Brille verschwinden? Ich will das nicht überinterpretieren, wohl wissend, dass solche Entscheidungen oft einer rein handwerklich-künstlerischen Intuition folgen. Doch gedruckt sind solche Zusammenhänge eine Setzung und ästhetische Behauptungen. So ziehe ich vom Rot des geöffneten Mundes eine direkte Linie zu Brueghels Sprich-WORT-Bildern und verstehe seine mittelalterliche Welt als dramaturgischen Kontrapunkt zum einfältigen Büroalltag, die sich als Bildpolitik in Form eines Weinflaschenetikett zitiert in unsere heutige moderne Welt herübergerettet hat. Eine andere Linie lässt sich vom modernen Kunst-Signet als heimliches Firmenlogo im Foyer und in verkleinerter Form als Mitarbeiterbindung auf Birgits Schreibtisch ziehen. Ich weiß nicht, was ist sagen soll – dieses Buch ist so reich an Quer- und Längsverbindungen, dass man sich schnell im Gebirge der Interpretationen versteigt, mit der Gefahr, dass ein Wetterumschwung für die eigene Logik tödlich sein kann. So taucht das erwähnte kristalline Kunst-Firmen-Logo nicht nur im Foyer und auf Birgits Schreibtisch, sondern auch auf der Umschlaginnenseite, beim „Brueghel“ auf. Damit kristallisiert sich gleichzeitig auch Baltingers Haltung. Vergleichen wir Clippy mit der abstrakten Büroklammerkunst Matschinsky-Denninghoffs und die beweglichen Röhrenplastik des Window-Bildschirmschoners mit dem zitierten Bauhaus-Freischwinger, wird Baltingers Haltung als gewitzter Ästhet deutlich. Und auf diesem Pfad kommt man schnell vom modernen Firmengebäude à la Erich Mendelsohn, das er ganz offensichtlich mit dem mittelalterlichen Image von Lüneburg kontrastiert, zu literarischen Vergleichen. Zu Robert Walers Bureau-Erzählung, Gogols Mantel, Melvilles Bartleby, Kafkas Dachsbau und Hungerkünstler – diesen Giganten der Normalität. Birgit ist auch so eine Gigantin der Normalität.
Christoph Bannat
Max Baitinger: Birgit, Reprodukt 2017