26. Januar 2004

Summer in the city

 

Bei den Meistern der Zweckentfremdung, also den Lettristen und anschließend (ab 1957) den Situationisten, sollte man sich darauf gefasst machen, Geistesverwandte in eigener, lettristischer Sache präsentiert zu bekommen, deren Vertreter (zumindest die zweite Garde) beim alten Molière immer nur die „lächerlichen Preziösen“ hießen. Es war die Zeit der großen Salons um 1730, der „Königsmechanismus“ lähmte die Gesellschaft, man hatte viel Zeit, sich die Zeit mit Konversation, Spielen und dem Verfassen zehnbändiger Romane zu verkürzen, und die adeligen Gruppierungen standen in der Verpflichtung, sich ihre Distinguiertheit mit jeweils ein wenig anderen Schwerpunkten gegenseitig vorzuführen.

Die Preziösen waren wahrscheinlich nicht die Erfinder des Spaziergangs, aber auf ihren Promenaden gaben sie sich unter anderem der mehr oder weniger erfolgreichen Erfindung von Wörtern hin, und zu diesen gehören auch die zahlreichen Namen auf der legendären „carte de Tendre“, die wiederum eine Art Musterspaziergang darstellt, ein zu verlebendigendes Brettspiel der Liebe. Arbeit am Sozialen also, das mochten die Lettristen, wozu auch der Guru Guy Debord gehörte, einer der wenigen, die nicht im Laufe der kurzen Lettristen-Zeit ausgeschlossen wurden.

Diese Arbeit war aber hier, genauso wenig wie bei den Salondamen, eine bürgerliche, bezahlte. Sie war ein Geschenk, auf das sich die Beschenkten einlassen konnten oder auch nicht. Schon in den 50er Jahren hatten die Vorgänger der Situationisten den guten Riecher, dass mindestens ebenso wichtig wie die Arbeit die Freizeit werden würde, für deren formale Gestaltung sie den Terminus „dérive“, also Herumschweifen, wählten. Die carte de Tendre entwendeten die Lettristen dabei zum urbanen revolutionären Gang. Das hat erst mal jeder für sich gemacht. Man war ja noch auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt und etwaigen Bündnispartnern. Das Ziel war jedoch klar. In der ersten Nummer vom 22. Juni 1954 hieß es: „Wir arbeiten an der bewussten und kollektiven Errichtung einer neuen Zivilisation.“

Es ist sehr wahrscheinlich, dass man das zu der Zeit Ernst meinte, auch wenn das Spielerische gerade der ersten Potlatch-Nummern dem zu widersprechen scheint. Noch heute können vor allem die Überlegungen zum Urbanismus und zur Architektur überzeugen, wenn auch nicht klar ist, wie man sich diese Dynamik beim Städtebau genau vorstellen soll. (Jedenfalls hat das nichts mit Heideggers Wohnen zu tun.) Aber das ist das grundlegende Prinzip: Nichts soll feststehen, alles wird zu einer Funktion von allem. Situationen schaffen und sich von Situationen schaffen lassen und dies als dialektisches Spiel verstehen – das war der Einsatz, um den es diesen Leuten ging. Endzeit ist Anfangszeit, das wussten die Lettristen wie die Preziösen, und sie waren wohl ähnlich kompromisslos: Angelegt haben sie sich mit allen. Der Feind, das sind alle anderen.

Insgesamt sind diese 29 bzw. 30 Bulletins sehr erfrischend zu lesen, und es ist schön, dass es sie jetzt auch auf deutsch zu lesen gibt. Weder aber ist Debord der Herausgeber des Blatts noch dessen alleiniger Autor, wie der deutsche Titel unterstellen könnte, die französische Taschenbuchausgabe (1996) hat Debord „präsentiert“.

Bei den Meistern der Zweckentfremdung, also den Lettristen und anschließend (ab 1957) den Situationisten, sollte man sich darauf gefasst machen, Geistesverwandte in eigener, lettristischer Sache präsentiert zu bekommen, deren Vertreter (zumindest die zweite Garde) beim alten Molière immer nur die „lächerlichen Preziösen“ hießen. Es war die Zeit der großen Salons um 1730, der „Königsmechanismus“ lähmte die Gesellschaft, man hatte viel Zeit, sich die Zeit mit Konversation, Spielen und dem Verfassen zehnbändiger Romane zu verkürzen, und die adeligen Gruppierungen standen in der Verpflichtung, sich ihre Distinguiertheit mit jeweils ein wenig anderen Schwerpunkten gegenseitig vorzuführen. Die Preziösen waren wahrscheinlich nicht die Erfinder des Spaziergangs, aber auf ihren Promenaden gaben sie sich unter anderem der mehr oder weniger erfolgreichen Erfindung von Wörtern hin, und zu diesen gehören auch die zahlreichen Namen auf der legendären „carte de Tendre“, die wiederum eine Art Musterspaziergang darstellt, ein zu verlebendigendes Brettspiel der Liebe. Arbeit am Sozialen also, das mochten die Lettristen, wozu auch der Guru Guy Debord gehörte, einer der wenigen, die nicht im Laufe der kurzen Lettristen-Zeit ausgeschlossen wurden. Diese Arbeit war aber hier, genauso wenig wie bei den Salondamen, eine bürgerliche, bezahlte. Sie war ein Geschenk, auf das sich die Beschenkten einlassen konnten oder auch nicht. Schon in den 50er Jahren hatten die Vorgänger der Situationisten den guten Riecher, dass mindestens ebenso wichtig wie die Arbeit die Freizeit werden würde, für deren formale Gestaltung sie den Terminus „dérive“, also Herumschweifen, wählten. Die carte de Tendre entwendeten die Lettristen dabei zum urbanen revolutionären Gang. Das hat erst mal jeder für sich gemacht. Man war ja noch auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt und etwaigen Bündnispartnern. Das Ziel war jedoch klar. In der ersten Nummer vom 22. Juni 1954 hieß es: „Wir arbeiten an der bewussten und kollektiven Errichtung einer neuen Zivilisation.“ Es ist sehr wahrscheinlich, dass man das zu der Zeit Ernst meinte, auch wenn das Spielerische gerade der ersten Potlatch-Nummern dem zu widersprechen scheint. Noch heute können vor allem die Überlegungen zum Urbanismus und zur Architektur überzeugen, wenn auch nicht klar ist, wie man sich diese Dynamik beim Städtebau genau vorstellen soll. (Jedenfalls hat das nichts mit Heideggers Wohnen zu tun.) Aber das ist das grundlegende Prinzip: Nichts soll feststehen, alles wird zu einer Funktion von allem. Situationen schaffen und sich von Situationen schaffen lassen und dies als dialektisches Spiel verstehen – das war der Einsatz, um den es diesen Leuten ging. Endzeit ist Anfangszeit, das wussten die Lettristen wie die Preziösen, und sie waren wohl ähnlich kompromisslos: Angelegt haben sie sich mit allen. Der Feind, das sind alle anderen. Insgesamt sind diese 29 bzw. 30 Bulletins sehr erfrischend zu lesen, und es ist schön, dass es sie seit einiger Zeit auch auf deutsch zu lesen gibt. Weder aber ist Debord der Herausgeber des Blatts noch dessen alleiniger Autor, wie der deutsche Titel unterstellen könnte, die französische Taschenbuchausgabe (1996) hat Debord „präsentiert“.

 

Dieter Wenk

 

Potlatch – Bulletin d’information (du groupe français) de l’Internationale lettriste