29. April 2017

Präemptives Philosophieren

 

Ein Literaturwissenschaftler sitzt im Flieger nach Miami. Für ein paar Stunden ist er offline. Gelangweilt beobachtet er die anderen Passagiere, die sich lautlos Filme ansehen. Platons Höhle 11.000 Meter über dem Atlantik. Da fasst er den Entschluss, ein Buch zu schreiben – genauer: in den folgenden zwei Wochen auf Künstlerresidenz am Art Center South Florida, zwischen Strand, touristischer Stadterkundung per Motorroller und Nachtleben, ein philosophisches Buch zu beginnen und fertigzustellen.

            Es ist ein gewagtes Schreibexperiment, das Armen Avanessian da vor den Augen seiner Leser_innen unternimmt, ein Akt gezielter Selbstüberforderung und 
-überrumpelung, und zugleich eine konsequente Dekonstruktion des eingangs geäußerten Vorsatzes, endlich mal „mit etwas Ruhe nachzudenken“. Das soeben erschienene Resultat, Miamification, verwirft alle Erwartungen, die man an einen philosophischen Text stellen könnte, und löst sie auf höherer Ebene doch wieder ein.

            Dabei ähnelt Avanessians Versuchsanordnung formal einem Gedankentagebuch, das sich jedoch aller Residuen subjektiver Innerlichkeit und bürgerlicher Gefühlsbildung entledigt hat, die diesem Genre einst angehaftet haben mochten. Statt auf ein lebensweltlich eingebettetes Subjekt privater Schreibarbeit stößt man hier auf ein globalisiertes Subjekt, das sich morgens erst über die Zeitzone informieren muss, in der es aufwacht, dessen Identität sich auf die diversen Social-Media-Accounts verteilt, die es täglich bespielt, und dessen Denkvorgänge sich entlang Wikipedialektüren und Zitatsplittern entfalten. Die vom Berliner Designstudio HalloMe gestalteten Buchseiten von Miamification zeigen uns diese Materialien denn auch wie eben eingegangene SMS an.

 

            Präsenzkritik unter Palmen

 

Was kann es unter diesen Umständen bedeuten, in Miami zu sein?

            Jedenfalls nicht, einfach da zu sein. Vielmehr spaltet sich – so der erzählperspektivische Kunstgriff des Texts – das Ich des Autors bereits im Verlauf des Hinflugs auf und adressiert sich fortan selbst als heterogenes Du, das als Avatar im eigenen Leben, seinen Vergangenheiten, Zukünften und Möglichkeiten unterwegs ist. Indem das Du im Verlauf des Texts von der Selbstadressierung des Autors immer wieder in die persönliche Ansprache seiner Leser_innen umkippt, wandeln wir dann meist selbst als Avatare des Autors durch das Miami seines Buchs. Wer dabei  einprägsame Schilderungen von Settings und Begebenheiten vor Ort erwartet, wird jedoch enttäuscht. Miami ist eindeutig nicht der Protagonist von Miamification. Die Straßenszenen bleiben schematisch, Begegnungen kommen praktisch ohne Figurenzeichnung aus. Und obwohl die Lebensgefährtin des Autors mitreist, geht es hier dezidiert nicht um die literarische Verbindung intimer Details mit stilsicheren philosophischen Lektüren, mit der Maggie Nelsons The Argonauts in jüngerer Zeit große Erfolge gefeiert hat.

            Vielmehr steht in Miamification die Frage von Präsenz und Mediatisiertheit selbst auf dem Spiel: die faktische Unmöglichkeit ebenso wie die politische Weigerung, jederzeit am deiktischen Schnittpunkt von Ich, Hier und Jetzt präsent und als Subjekt umstandslos identifizierbar zu sein. Dazu passt, dass der Text jede Chance ästhetischer Vergegenwärtigung verstreichen lässt und seinen Städtebesuch in den Modus des Déjà-vu taucht – kennt man das alles nicht schon aus Miami Vice oder Dexter?! Ebenso folgerichtig ist, dass die reflexiven Passagen im Buch sich kaum an Ortsspezifika, sondern meistens an Szenen alltäglichen Mediengebrauchs entzünden: Facebook checken, iPhone kaufen, Filmscreening besuchen, etc. – Dinge, für die man gar nicht in Miami sein muss. Viel eher als der Name eines ortsspezifischen Prozesses ist die titelgebende „Miamifikation“ des Buches somit Chiffre für eine Globalität, die sich nicht restlos auf einzelne Orte des Globus abbilden lässt und sich daher der unmittelbaren Wahrnehmung und ästhetischen Erfahrung entzieht.

            Dass es umgekehrt gerade die exzessiv genutzten digitalen Medien sind, die ihn räumlich – in Miami Beach! – verorten, wird dem Autor logischerweise zum Problem. Dabei es geht um die lokalisierenden und identifizierenden Mächte des Netzes, die Nutzer_innen auf Karten verzeichnen, Bewegungsprofile erstellen und ihre sozialen Netzwerke vermittels Metadaten nachzeichnen; die Sache geht aber weit über die bloß erkennungsdienstliche Behandlung der Subjekte hinaus. So erkennt Avanessian in den personalisierten Buchempfehlungen auf Amazon, der gezielten Werbung und den Newsfeeds auf Facebook und anderen Fällen algorithmischer Antizipation das Paradigma einer „Präemptiven Personalisierung“ sich abzeichnen, in dem unsere Wünsche und Gedanken erkannt werden, noch bevor wir sie gehabt haben, und das uns somit immer tiefer in Tautologien unserer selbst hineintreibt. Big Data fungiert als identitätspolitisches Agens eines neuen Essenzialismus, dem, wie Miamification versucht zu zeigen, nur zeitphilosophisch beizukommen ist.

 

            Kampf um die Zukunft in der Zukunft

 

Damit befinden wir uns bereits im diskursiven Kraftzentrum des Buchs. Es besteht in der Vertiefung und weitergehenden Exemplifikation der Figur des „Zeitkomplexes“, die Avanessian zusammen mit dem Kunsttheoretiker Suhail Malik in einer Merve-Publikation von 2016 bereits skizziert hatte. Amazon, Facebook und Co. sind demnach nämlich bloß Mosaiksteine eines Komplexes, der sich in der Vorstellung verdichtet, man habe es heute auf breiter Front mit politischen Kämpfen um die Zukunft zu tun, die in gewissem Sinne selbst bereits „in der Zukunft“ auszutragen und insofern nicht mehr zeitgenössisch, sondern bereits „nach-zeitgenössisch“ (post-contemporary) sind.

            Nun haben Menschen immer schon ihr Handeln auf Zukunft bezogen – begründete Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen sowie zielstrebig verfolgte, sich aber erst zukünftig realisierende Pläne und Wünsche haben je bestimmt, was in der Gegenwart geschieht. In der religiösen Praxis manifestiert sich diese Zukunftsbezogenheit speziell etwa als Weissagung und Eschatologie; philosophisch wird der Sachverhalt unter dem Stichwort Teleologie sowie im Induktionsproblem zum Thema; und nicht zuletzt haben Formen statistischer Antizipation nicht nur im Versicherungswesen, sondern generell in der ökonomischen, demographischen und kriminologischen Gouvernementalität des modernen Nationalstaats eine zentrale Rolle gespielt, wie Michel Foucault wusste.

            Avanessian geht jedoch von einer – wesentlich durch Big Data hervorgebrachten – neuen Qualität dieser Praxen in der Gegenwart aus, für die er die zeitphilosophische Metapher einer nunmehr „aus der Zukunft“ kommenden Zeit prägt. Nicht nur präemptive Personalisierung, sondern auch präemptive Polizeiarbeit, präemptiver Krieg und Anti-Terror-Krieg sowie das präemptive Operieren der Finanzmärkte gestalten unsere Zukunft, indem sie sie vorwegnehmen. Diese Gestaltungsmacht geht weit über ein bloßes Verhindern, über reine Prävention hinaus. Der Fall des „Kriegs gegen den Terror“, der den Terrorismus des IS erst erzeugt, oder mächtiger Finanzakteure, deren Wetten die Kursbewegungen erst auslösen, auf die sie gesetzt haben, haben den Charakter wirklich werdender Fiktionen – sogenannter „Hyperstitionen“. Nicht nur, so muss man Avanessian verstehen, ist auf diesem Wege die Gestaltung der Zukunft heute weitgehend in die Hände reaktionärer politischer Agenden und partikularer ökonomischer Interessen geraten; sondern indem diese Spieler den rekursiven und poetischen – also hervorbringenden – Charakter ihres Tuns als bloße Prognostik einer vorab schon feststehenden Zukunft ausgeben, trüben sie unser Bewusstsein real bestehender Zukunftsoffenheit. Die Zukunft ist „automatisiert“ und damit verstellt worden.

            Antizipationen wie etwa die warnenden Klimamodelle – deren Meeresspiegelprognosen übrigens den Untergang Miamis noch im Laufe des 21. Jahrhunderts vorhersagen –, sowie generell Entwürfe für eine „bessere Zukunft“, stehen demgegenüber auf verlorenem Posten. Bittere Ironie: nur gut einen Monat nach der Abfassung des Texts wird mit dem „Orange-Utan“ Donald Trump ein Proponent faschistoider Hyperstitionen zum US-Präsidenten gewählt. Breitbart News hat sich, zusammen mit fehlgeleiteten Öl- und Finanzmarktinteressen, bis auf Weiteres ein Vorrecht auf Zukunftsgestaltung gesichert. 

            Der politische Impuls von Miamification besteht darin, demgegenüber immer wieder auf dem rekursiven und poetischen Charakter der Zukunft zu insistieren; in dem Versuch, uns der Gegenwartsverfallenheit der twitter trances und live logs zu entreißen; und in dem Appell, den Kampf um die Zukunft in der Zukunft, also im Modus der Präemption aufzunehmen: „Der gegenwärtige Zeitkomplex muss aus dieser restriktiven oder (zeit)polizeilichen Umklammerung gelöst werden.“ Dabei verbleibt der Text meist auf dem Niveau einer Propädeutik alternativer Zukunftspoiesis: er legt überzeugend die Notwendigkeit des rekursiven Zukunftsbezugs dar, schreitet aber nicht selbst zur Tat. Miamification enthält keine Blaupause für die hyperstitionale Reform der Finanzmärkte oder der sozialen Netzwerke.

            Das war nach zwei Wochen Miami auch nicht zu erwarten gewesen. Problematischer ist hingegen der methodologische Individualismus des Texts. Denn nicht nur setzt Avanessian vor allem an der Veränderung der einzelnen Subjekte an, die ihm als Schlüssel zu gesellschaftlicher Transformation erscheint: sein Anliegen ist „die Transformation des sich seiner selbst gewissen, sich seiner Gegenwart versichern wollenden Subjekts“. Auch die im Du des Texts mitaddressierten Leser_innen bleiben letztlich eine Menge Einzelner. Gesellschaftliche Netzwerke, Gruppen und Institutionen haben als Agenten im Kampf um die Wiedergewinnung der Zukunft keine erkennbare politische Funktion. Tatsächlich aber erfordert die nachhaltige Selbstregierung von 7.5 Milliarden Menschen dringend die Erfindung neuer institutioneller Regimes.

 

            Schreib-Kicks

 

Miamification hingegen interessiert sich vorerst für eine neue Philosophie. Das ist, so weiß man seit Avanessians letzter Monografie Überschrift, einer Analyse der neoliberalen Universität in der Krise, für den Autor vor allem eine Philosophie, die an den Randbereichen oder gleich ganz außerhalb der akademischer Viertel produziert wird. Insbesondere ist es die Kunstwelt, in der und für die heute Denken stattfindet und deren Gier „nach dem nächsten Theorie-Kick“ er mit der erwähnten Zeitkomplex-Publikation (letztlich einem Beiblatt zur 9. Berlin Biennale 2016) präzise bedient hatte. Allerdings bleibt diese Allianz fragil – insbesondere angesichts der prekären ökonomische Funktion der zeitgenössischen Kunst, deren Gentrifizierungseffekte Miamification am Beispiel Miami nachzeichnet. Es gibt daher bei Avanessian noch eine andere, vielleicht ältere Bestimmung, der zufolge Philosophie wesentlich als eine schreibende Praxis zu fassen sei – als Schreiben von Büchern, das die Schreibenden in ihrem Prozess, und dann auch die Lesenden metanoetisch transformiert. Dazu kann, wie im vorliegenden Fall, gerne mit ungewöhnlichen Schreibsettings experimentiert werden.

            Man mag eine so pauschal veranschlagte transformative Kraft des Schreibens und das metanoetische Potential des Mediums Buch in Zeiten von Snapchat und Instagram bezweifeln. Unbezweifelbar hingegen ist, dass die systematische Überforderung, der sich Miamification konkret aussetzt, und der akute Gegenwartsstress, dem es sich stellt – allein schon der Einband nervt mit seinem Gewimmel hyperaktueller Schlagwörter von Trump bis Post-Internet –, eine Aufgabe der Philosophie exemplifiziert, die in akademischeren Gefilden häufig unverspürt bleibt: als freies spekulatives Denkvermögen ohne spezifischen Gegenstand oder vorab festgelegten Aufgabenbereich sich in die unreduzierte Komplexität der Welt zu werfen, der man nicht adäquat werden und mit der man nicht zu Rande kommen kann.

            Und die meisten Dinge, die im Buch vorkommen, wurden bislang nicht mal erwähnt: von Uber-Economy und Postkapitalismus über Hurrikan Matthew und Carbon Democracy bis hin zum Ende der Arbeitsgesellschaft... Es ist ein populäres und präemptives, ein unverfrorenes und notorisch unvollendetes Philosophieren, in das Avanessian seine Leser_innen hier verwickelt. Während Miami in den Fluten versinkt, wird man mit Miamification nicht fertig.

 

Daniel Falb

 

 

Armen Avanessian, Miamification, Merve 2017 


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