Talk-Talk
Frankreich, du hast es besser. Alle Welt beneidet dich um die unnachahmliche Art, über die tiefsten Dinge des Lebens (Liebe und Hausbesitz) zu plaudern. Hier gibt es keine viertelstündigen Pro-und-contra-Prozeduren der Entscheidungsfindung, die kurze Zeit später doch über den Haufen geworfen werden. Du überziehst uns mit einem raffinierten Netz aus Einfachheit und Eleganz und zwingst uns den Dauerseufzer ab, wie schön und interessant es doch sein muss, in deiner Kapitale zu leben. Deine Figuren sind immer so nett angezogen. Mal Trutsche, mal Clown, aber immer sexy. Außerdem sind sie so beweglich wie sonst wohl nirgendwo. Mal wohnen sie im Zentrum, dann ziehen sie an die Peripherie, kurze Zeit später haben sie schon wieder eine Superwohnung in Paris. Sie wissen genau, was sie wollen, denn die Liebe wohnt in ihnen. Und das teilen sie dann auch noch mit.
Das Spannende dabei ist, dass bei aller Raffinesse der Figuren der Zuschauer manchmal sogar etwas mehr weiß als sie. Man ertappt sie beim Lügen. Aber man weiß ja: Dem Franzosen geht es bei allem, was er tut, um die Maximierung der Lust. Das gilt auch für Frauen, wie dieser Film sehr schön zeigt. Louise (Pascale Ogier), die Frau mit der tapfer hochtoupierten Frisette, wohnt mit ihrem etwas stummen Freund Rémy in einem Pariser Banlieu. Reden tut sie aber am liebsten mit Octave, der als Journalist arbeitet und, wie er zutreffend selbst bemerkt, diesen typischen französischen Verführungsduft in die Welt setzt durch Sprachabsonderung. Louise sieht das im Grunde auch so, bringt aber gleichwohl den freilich für Octave gravierenden Unterschied an, dass die wirkliche körperliche Verführungskompetenz dann doch noch mal andere Kapazitäten freisetzen müsste.
Keineswegs in tumber Deutlichkeit, sondern mit den Mitteln feiner Anspielung, die dadurch nur um so grausamer wirken, sieht Louise sich genötigt, Octave die Wahrheit eben nicht ins Gesicht zu sagen. Aber der Zuschauer versteht: Hier wurde gerade deutlich, dass Louise noch mehr Männer braucht, um glücklich zu werden. Sie hat zwar jetzt schon zwei Wohnungen, aber die Engführung mit männlichem Personal steht immer noch aus. In einer Einstellung, die gewissermaßen das dramaturgische Zentrum des Films bildet und zugleich den Beginn von Louises Untergang, wird insinuiert, dass auch Rémy, der schweigsame Mitbewohner im Vorort, nicht ganz untätig ist.
(Vielleicht ließe sich an dieser Konstellation sogar die weit reichende These ins Spiel bringen, dass im Gegensatz zum deutschen Film, wo es oft um Täter-Opfer-Verhältnisse geht, der französische Filme eher parallel geschaltet ist. Es gibt hier keine bloßen Gewinner und Verlierer. Es geht dann doch mehr um ein ästhetisches Äquilibrium.)
Der Verdacht also wächst, dass auch Rémy den Kontakt zum zarten und doch so willensstarken Geschlecht nicht ganz verliert. Und während der Zuschauer noch mit Louise zittert, die auf einer Party einen weiteren jungen Mann kennen lernt (eine Art französischer Tom Waits) und bald merkt, dass sie vielleicht doch keine Kandidatin für outrierten Amoralismus ist, ist man am Ende des Films doch verblüfft über die einmal mehr bestätigte Pointentreffsicherheit der Franzosen, denn was jetzt die gewissermaßen schon weich gewordene Heldin des Films zu gegenwärtigen hat, übertrifft alle Erwartung. Rémy hat die Frau seines Lebens gefunden. Und es ist nicht Louise.
Eric Rohmer ist schon ein ganz gewiefter Allegoriker, denn wie abgründig er zuletzt sein am Anfang des Films angeschriebenes Sprichwort dem Ort seiner Bestimmung zufahren lässt (wer zwei Menschen liebt, verliert seine Seele, wer zwei Häuser besitzt, verliert den Verstand), kann nicht anders gedeutet werden, als dass in Frankreich die härtesten Wirklichkeiten erfahren werden, deren Nichtbefolgung in anderen Ländern zu ruhigen Verhältnissen führen. Nur das eheliche Einfamilienhaus vermag wirklich zu schützen. Aber nur mit Fernseher, die Filme wie diese zeigen: zum Abgewöhnen.
Dieter Wenk
<typohead type=2>Eric Rohmer, Vollmondnächte (Les nuits de la pleine lune), Frankreich 1984</typohead>