Nachrichten aus dem laufenden Betrieb #2
Über das Beleidigen der Intelligenz. Meine Freundin Sabine arbeitet in einer großen Traditionsfirma. Es ist immer toll, ihr zuzuhören, wenn sie davon erzählt. Na ja, nicht immer. Aber meistens, weil, man glaubt ja nicht, was alles möglich ist in einem Traditionsladen – und auch, was nicht möglich ist, und zwar alles jetzt, im Jahr 2017. Leider darf ich hier nicht sagen, wo sie arbeitet. Das hängt wiederum mit der Wichtigkeit dieses Ladens zusammen. Es ist nämlich eigentlich so, dass alle, die dort arbeiten (Sabine auch ein bisschen) wahnsinnig stolz darauf sind, dort zu arbeiten, sodass sie nur untereinander darüber lästern dürfen. Sobald es jemand anders tut, ist das beleidigend bzw. ganz schlimm. Muss man erst mal verstehen, ist aber logisch. Weil: Wenn man sich unter sich aufregt, ist das wie ein Familienstreit. Da kann man sich einiges an den Kopf werfen, vielleicht sogar eine Banane im Eifer des Gefechts. Wenn dann aber die Freundin des Hauses (später) sagt: Wie, esst ihr die Banane nicht mehr? Oder: Ihr schmeißt Bananenschalen in den Hausmüll und nicht in die Biotonne? – dann ist sie ziemlich nah am Hausverbot. Weil: Auf einmal ist die Familie mit jeder Familie im Hausblock und letztlich überall, wo Müll getrennt wird, vergleichbar – das will keine Familie, die auf sich hält. Also: Diese Firma ist was Besonderes. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alle, die dort arbeiten, so besonders sind, dass sie oft nicht so genau wissen, worin ihre Arbeit eigentlich besteht. Wenn also jemand eine Entscheidung trifft, dann trifft er sie meist vorläufig, denn es könnte immer sein, dass ein Vorgesetzter die Entscheidung später kassiert. Vor jedem Untergebenen wird er die Entscheidung aber als in Beton gegossen darstellen. Wegen der Vorläufigkeit der Entscheidungen kommt die Zufriedenheit letztlich weniger über die Arbeit, sondern das erfolgreiche Beharren. Auf diese Weise funktioniert der Laden ganz gut, und jeder weiß, wo sein Platz ist. Ich habe gehört, das sei sehr typisch für Traditionsfirmen. Es ist wie ein großes Geheimnis, das alle teilen, und weil ein großer Name drüberschwebt (und wohl auch, weil alle gut Schotter verdienen), ist es toll, dieses Geheimnis zu teilen. Man darf es nur nicht hinterfragen. Niemand wäre so doof, in diesem Elysium einen Vorschlag zu machen. Außer Sabine. Das war gestern. Sabine fragte ihren Vorgesetzten, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Liste mit allen wichtigen Ansprechpartnern samt Telefonnummern für ihre Abteilung zu erstellen. Das könnte Zeit sparen, und für den neuen Kollegen wäre es doch auch hilf ...
Nein. Sabine lernte, dass es da ein großes Problem geben würde, denn manchmal wäre womöglich jemand anders als die auf der vorgeschlagenen Liste verzeichnete Person Ansprechpartner. Es könne also vorkommen, dass der neue Kollege nicht nur minuten-, sondern möglicherweise stunden- (tage-?) lang versuche, ein Problem zu lösen und dabei auf die Hilfe einer Person auf der Liste hoffe, die womöglich krank oder (Schreck: schwanger!) wäre, was den Arbeitsprozess entsprechend verzögern würde. Ob sie, Sabine, denn tatsächlich dieses Risiko tragen wolle? Und überhaupt: Bisher ging es doch auch gut ohne? Und: Sieht so eine Telefonliste nicht aus wie Zwang? Dies sei doch schließlich kein autoritäres Haus. Vielleicht möchte ja jemand lieber selber herausfinden, wer denn der richtige Ansprechpartner ist, beispielsweise über die Zentrale oder er geht mal den Flur runter. Hier im Haus sei eben Selbstständigkeit die oberste Tugend, und im Lauf der Jahre lernt man dann eben schon seine Pappenheimer kennen – dann weiß man schon, wen man anzurufen hat und wen nicht. Hält auch den Denkapparat fit, wenn man sich seine Informationen selbst besorgt. Sonst könnte man gleich alle Nummern auf eine Liste schreiben und die jedem geben!
Beate von Murnau (14. März 2017)