24. Januar 2004

Das letzte Tabu

 

Dieses Buch ist alt geworden. Das liegt daran, dass mittlerweile die Laufrichtung eine andere ist. Kaum Gusto mehr auf Abstraktion. Man schmeckt mit den Augen, und die wollen Bewegung. Stehenden Gebietern glaubt man nicht mehr. Einen Satz wie: „Es gibt nur einen einzigen Roman in unseren Literaturen“ versteht man nicht mehr. Jeder will einzig sein, das neoliberale oder wie auch immer sich bezeichnende Individuum glaubt sich frei von undurchschauten übergeordneten Strukturen.

Dabei bezieht sich in Sachen Liebe alles, so der Autor, seit dem 12. Jahrhundert, also seit der Zeit der großen höfischen Epen, auf die Figur des Tristan und, etwas später, zusätzlich auf die des Don Juan. Der, der nur die eine liebt, und der, der sie alle liebt. Jede konkrete Liebe ist auf diese beiden Mächte bezogen, hinter denen keine Personen stehen. Weder Tristan noch Don Juan sind Menschen, denn sie lieben nicht, sie bezeichnen Extreme, und das macht sie zu Mythen. Hinter Tristan steht der Aberglaube, dass die Zahl der Liebe zwei und nicht drei ist. Das nennt man Selbstgenügsamkeit zu zweit, folie à deux, aber Liebende brauchen immer einen Dritten, einen König Marke des Verbots, oder umgekehrt, und weniger romantisch, eine Instanz, die sagt, dass das alles so in Ordnung geht.

Don Juan wiederum ist ein Opfer seiner Läufigkeit. Sein Zeichen ist die umgefallene 8, auf der er endlos seine Runden dreht. Mehr als diese beiden Unmöglichkeiten braucht es nicht, um Romanen den ihnen eigenen Dreh zu geben. Alle möglichen Affekte wird man dazwischen aufgereiht finden. Und doch meint der Autor, der die Zeit der tristanianischen Verbotsüberschreitungen zu Ende glaubt und somit, ohne dass das Wort fällt, die Zeit des post-modernen Romans verkündet, dass es da noch eine Lücke gibt, in die sich noch kein abendländischer Autor hineinbegeben habe.

Durchaus als Anklage schreibt de Rougemont: „Die Erotik der Ehe ist eine terra incognita in der Literatur des Okzidents.“ Und etwas deutlicher: „ … unsere Literaturen, unfähig, den Mythos der idealen Ehe zu kreieren, haben von ihren Krankheiten gelebt.“ Robert Musil, den der Autor verehrt, habe es beinahe zustande gebracht, habe aber vor einer direkten Umsetzung seiner glücklichen Ehe (die wird Musil unterstellt) in den Roman zurückgescheut und sie als Inzestgeschichte (also auch wieder als Geschichte eines Verbots) zwischen Geschwistern inszeniert. Homosexuelle haben irgendwie ein noch ungebrochenes Verhältnis zu diesem gar nicht mal so jesuanisch-evangelischen Sakrament, dessen ideale Transkription vermutlich nur Engel als Leser erreichen dürfte.

Aber es gibt ihn ja inzwischen, diesen umschifften, ängstlich gemiedenen glücklichen Eheroman. Jedenfalls reklamiert ihn ein an dieser Stelle schon öfter genannter Autor für sich, Philippe Sollers, und der Roman heißt allerdings nicht „Die Ehefrau“, sondern ganz traditionell „Frauen“. Aber dieser Roman schafft keinen neuen Mythos, einfach weil er nicht der Roman ist, der die Lücke füllt. Er reklamiert den Anspruch, und fährt doch im alten Fahrwasser. Leider erfährt man auch von Denis de Rougemont nicht, wie ein solcher Roman zu gestalten wäre, aber Recht hat er wohl, wenn er sagt, dass die Verdammung der erfüllten Ehe eine literarische Konvention und deren Glück somit ein Tabu darstelle. Also doch immer noch moderne Zeiten?

Nach diesem interessantesten Essay folgen weitere zu Liebeskonzeptionen bei Kierkegaard, Nietzsche, Rudolf Kassner und solchen im Morgenland. Diese Betrachtungen sind sehr abgehoben, aber vermutlich braucht es diese Höhe, damit die erhabenen Heiratskandidaten, die das Abendland und das Morgenland darstellen, es dahinbringen, sich das Jawort geben zu können. Auch dieser Roman ist noch nicht geschrieben worden. Andererseits fehlt er nicht wirklich. Die großen Vokabeln vermisst man nicht. Aber vielleicht sollten Priester wirklich heiraten dürfen. Einen Versuch wäre es wert. Auch wenn nur ein Mythos als fun herauskäme.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>Denis de Rougemont, Les mythes de l’amour, Paris 1961 (Die Mythen der Liebe)</typohead>