Das große Du
Es ist ein berührender Comic. Einer, der unter die Haupt geht und dann in den Kopf steigt. Es ist die Geschichte einer Befreiung. Aber ist nicht jede Geschichte eine der Befreiung? Vielleicht nicht gerade die einer abgeschlossenen, aber doch immer einer Befreiung. In „Die Leichtigkeit“ erzählt Catherine Meurisse ihre traumatischen Erlebnisse vom Massaker in der Charlie-Hebdo-Redaktion 2015, das sie als „zu spät“ gekommenes Redaktionsmitglied überlebte. Wenn ich meine, dass jede Geschichte eine der Befreiung ist, dann deshalb, weil jeder Autor das Ende „seiner“ Geschichte kennt. Damit hat er etwas Göttliches, denn er hat mit dem Ende eben auch seine Geschichte in der Hand. Im Gegensatz zur Lebensgeschichte, dessen Ende wir natürlicherweise nicht in unserer Hand haben. Der Autor kennt, gerade auch im Gegensatz zum Leser, das Ende seiner Geschichte. Ein Gerücht besagt, dass wir am Ende erfahren, warum wir (so?) gelebt haben. Catherine Meurisse findet in ihrer autobiografischen Erzählung ihr betäubtes Selbstbewusstsein wieder, indem sie sich mit Kunst beschäftigt und das nicht im Sinne von Kunsttherapie. Sie gewinnt ihr Selbstbewusstsein durch Kulturbesuche bei Caravaggio, Bach, Géricault, Oblomov und Stendhal zurück. Diese Künstler haben für sie eine Form für ihre Lebensproblematik gefunden. Ihre Suche nach einer Form fängt mit der Suche an – das ist ihre Geschichte. Form gewinnen wir nur, wenn wir Abstand vom Leben nehmen. Schmerzen machen uns distanzlos zu uns selbst. Schmerzen machen dumm. Ihr Trauma stürzt sie in schmerzhafte Formlosigkeit, die ihr Leben bedroht. Meurisses Therapeut erklärt das ganz logisch: „Konkret will die Psyche sich nach einem solchen traumatischen Schock vom Körper entkoppeln, mit dem einzigen Ziel: sich zu löschen.“ Mit der Gefahr, dass der Lebensfaden, welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet, zerreißt. Das Leben droht vom Wahnsinn zersetzt zu werden. „Die griechische Statue ist für uns Kunst, insofern sie für ihren Bildhauer etwas anderes war: die Darstellung der Götter der Polis, der Schmuck ihrer Institutionen und Feierlichkeiten. Sie heißt „Medizin“ bei Deleuze, der an dieser Stelle einen Satz von Clézio zitiert: „Eines Tages wird man vielleicht wissen, dass es keine Kunst gab, sondern nur Medizin. Die zwei Formeln widersprechen sich ihrem Prinzip nach nicht, die griechische Statue ist die Gesundheit eines Volkes und die Deleuz’sche Medizin ist, wie diejenige Nietzsches, eine Medizin der Kultur.“ So Jaques Rancière in „Ist Kunst widerständig“. In diesem Sinne bewegt auch Meurisse sich heilsuchend auf dem Feld der Kultur, im Palazzo Massimo oder der Villa Medici zwischen römisch-griechischen Skulpturfragmenten. So wird ihr Schmerz etwas klassischer, weniger zeitgemäß. Durch die Formfindung der Vergangenheiten nimmt sie Abstand von der Gegenwart ihres Schmerzes, um diesem dann selbstbewusst nähertreten zu können. Das ist die Geschichte ihrer Befreiung. Und die römisch-griechischen Skulpturen, Géricault, Bach und Oblomov gibt es nur, weil wir sie in unserem Herzen immer wieder erneuern und mit Beachtung füttern. Sie sind Klassiker, weil sie zeitgemäß sind. Auch davon erzählt Catherine Meurisses Comic. Gleichzeitig erzählt sie, zusagen im Subtext, von der Güte der Geschichte. Dazu gleich mehr.
Nach „Die Leichtigkeit“ habe ich versucht, die deutsche Ausgabe von „Charlie Hebdo“ zu lesen. Ich fand und finde sie noch immer widerlich, aufgeblasen, abstoßend und hässlich. Sie ekelt mich reizlos, anders als z. B. „Blubber“, die Pornos von Gilbert Hernandez, die mich jenseits des Brechreizes, der in „Blubber“ selbst auch thematisiert wird, tiefgreifend beschäftigen. „Charlie Hebdo“ setzt auf eine möglichst hohe Trefferquote, bezüglich der Erregung, eine, die sich bestenfalls im Lachen, aber auch im Kotzreiz oder einer nach innen gekehrten Schamhaftigkeit entlädt. Die Karikatur ist das Synonym für die Trefferquote. Ihre Kunst ist es, mit möglichst einem Bild, anders als bei einer Bildergeschichte, eine möglichst große Erregung zu erzeugen – ohne Frage eine Kunstform, bei der jeder Strich zählt. Es ist wie bei einem Gedicht, am anschaulichsten beim Haiku, bei dem jedes Wort zählt und jedes falsche Wort unverzeihlich das Ganze stört. Anders bei einer Geschichte. Bei einer Geschichte zählt nicht jedes Wort. Stimmen die Atmosphäre, die Beobachtungen, die Dramaturgie oder die Konstellationen, vergibt man falschen Metaphern oder syntaktischen Nachlässigkeiten gern. Das nenne ich die Güte der Geschichte. Analog zum wirklichem Leben, bei dem auch nicht jedes Wort zählt und nicht einmal alle Worte zusammengenommen. So wie die wirkliche Lebensgeschichte auch nicht die Summe seiner Erlebnisse ist, so ist die wörtliche Geschichte nicht die Summe ihrer Worte, geschweige denn deren Buchstaben, ja nicht einmal die Summe aller ihrer (Wort-)Kombinationen. Die Lebens- sowie die schriftliche Geschichte ist die des Geistes, der sie zusammensetzt. Und wenn Harold Brodkey von der Seele als der Summe unseres Lebens spricht, tut er dies im Bewusstsein, dass es diese nicht gibt. Das Leben ist eben ein Unsummenspiel. In diesem Sinne ist „Die Leichtigkeit“ von Catherine Meurisse ein Statement für die Geschichte, gegen die (Treffer-)Quote und für das große Du im Schattenvolk der Leser, denn nur wir verlebendigen ihre Geschichte und bilden uns damit selbst.
Christoph Bannat
Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen Verlag 2016