3. Februar 2017

Schöne gerade Welt

 

"Yanks"

Marius Müller-Westernhagen machte seinerzeit darauf aufmerksam, dass gleichlautende Termini nicht unbedingt das gleiche bedeuten. Damit ging Gertrude Steins Sermon zu Ende. Ein Mann, das ist zunächst gar nichts. Es/Er muss immer ein wenig mehr sein. Und jede Zeit fängt ihre Mannsbilder wie in einem Rosenkranz auf. Und so ist auch der Satz 'Eine Nation ist eine Nation' keine Tautologie. Dann schon eher der Satz: 'Eine Nation ist ihre Nationalhymne.' Und was für die einen wie Sphärenklang ist, dröhnt in den Ohren der anderen wie Kakophonie. Momentan ist man sensibilisiert für die Rückkehr der Nationalstaaten. Als ob sich ein neu-altes Gitterwerk über die Erde legte. Globalisierter Zeitgeist, in Stücken. Falsche Patrioten verschiedener Länder fassen sich paradoxerweise an den Händen. Wie um in diesem Augenblick den Hauptunterschied zu tilgen und den blinden Fleck taktisch zu nutzen.

Gehen wir einen Schritt zurück, in die Zeit der nationalen Selbstgenügsamkeit. In einem Gedicht aus der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg heißt es: "Die geradlinigen Staaten pressen ihr Pflaster zusammen, von wo sich die Flugzeuge zu den Sternen der Flagge erheben, die die Welt bedeckt." Etwas weiter: "Wir sind hundert Millionen. Wir leisten uns etwas als Territorien für uns ganz alleine." Und noch etwas weiter: "Unsere ganze Macht sitzt in der Mitte des Ozeans. Oh Pazifik. Zwischen dem alten Asien und dem Alten Europa. Wozu diese alten Gegenden erobern, diese alten Boutiquen, diese schwatzhaften Mengen. All das bleibt diesseits unserer Zeit. Wir fühlen uns gut bei uns." Das Gedicht, aus dem diese Zeilen entnommen sind, heißt "Yanks", der Autor, der es geschrieben hat, ist aber kein Amerikaner oder glühender Verehrer der USA, sondern ein Franzose, der den Ersten Weltkrieg mitgemacht hat. Noch im Krieg, 1917, erscheint in Frankreich sein erster Gedichtband, Interrogation, 1920 folgt Fond de cantine, aus dem "Yanks" stammt. In "Yanks" spricht eine Stimme, es ist die von Pierre Drieu la Rochelle, der es nicht verwunden hat, dass Frankreich nicht ohne Alliierte gegen das "starke" Deutschland hatte siegen können. Zu wenig Substanz, zu wenige Einwohner, sprich Krieger, von daher die Nennung der magischen "hundert Millionen". ("Welches Volk wird sich gegen uns erheben. Wir sind hundert Millionen, die größte weiße Nation, denn diese Russen, haben wir Mitleid.") Rollenlyrisch erlaubt sich der Autor eine Position der Stärke. Und kann doch nicht vergessen, dass er zu den Verlierern gehört, zur Alten Welt. Aber auch die Amerikaner machten doppeltes Spiel. Immerhin setzten sie über den Atlantik, um im "Land ihrer Großväter zu pilgern". Fast wie um sich zu entschuldigen heißt es: "Ja, wir sind gekommen. Und wir haben uns zurückgehalten zu lachen. 'Amerikanische Expeditionsstreitmacht im Lande Lilliputs'." Gegen die Gesänge und das Schreien dieser Truppen haben die Einheimischen nichts entgegenzusetzen, sie schweigen angesichts des Friedens. Die Amerikaner sind zufrieden, wieder weg zu gehen. Auf sie warten die Autos, die Spiele, "unsere Frauen, die lauthals lachen, weil sie Männer beherrschen, die es gut getroffen haben auf dem Planeten." Und dann folgt die finale Abrechnung mit dem Alten Kontinent:

"Wir richten nicht die Augen auf uns selbst wie diese

schmutzigen

Europäer

Sondern geradeaus.

Die Straße ist gerade.

Wir folgen ihr, und zwar schnell.

Wir jedenfalls sind nicht verdrossen."

Keine Frage, dass auch Drieu zwei Seelen in der Brust hatte. Er war kompliziert mit einer großen Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen, die durchaus grandios sein konnten und sollten. Aber in Europa war und ist nichts "geradlinig". Es ist schwerst zirkulär, es ist manisch, es ist depressiv. Hundert Jahre später gibt es für Europäer keinen Anlass für amerikanische Rollenprosa. Und aus deren splendid isolation wird, so steht zu befürchten, eine splendid domination.

 

Dieter Wenk (2-17)

 

 

Der Gedichtband Fond de cantin findet sich in folgender Veröffentlichung:

Pierre Drieu la Rochelle: Le jeune Européen et autres écrits de jeunesse 1917-1927, Édition établie par Julien Hervier, Paris 2016 (Éditions Bartillat) 

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