Durchleuchten

 

Uschi Obermeier barbusig im Rapsfeld auf dem Cover, im Innenteil großformatig ein Röntgenbild vom Gehirn Ulrike Meinhofs – das ist die Ausgabe des »Stern« vom 15. Juni 1972, die Ulrike Meinhof während ihrer Verhaftung am selben Tage bei sich trug. Markus Draper hat sich in einer Serie von acht Fine Art Prints mit diesem Heft des Nachrichtenmagazins auseinandergesetzt. Ein Essay von Svea Bräunert.

Markus Draper: (1) aus der Serie “Durchleuchten”: DEUTSCHES LAND, 2016, Fine Art Print auf Japanpapier, gerahmt, 59,6 x 85,6 cm

 

Sie sah Doppelbilder, ihr rechtes Auge begann zur Gesichtsmitte zu schielen, rechts unterhalb der Stirn spürte sie Schmerzen.

 

Am 15. Juni 1972 wurde Ulrike Meinhof in Hannover festgenommen. In ihrer Handtasche fand die Polizei „die Ausgabe Nr. 26 des Stern […]. In ihr ist eine Röntgenaufnahme von Ulrike Meinhofs Schädel abgebildet. Sie war entstanden, als die junge Frau 1962 an einer Gehirngeschwulst operiert wurde. Damals war der Tumor nicht entfernt, sondern mit Silberkrampen eingeklammert worden.“ Vier kleine Pfeile zeigen auf die Silberklammern, ein großer, dicker Pfeil zeigt auf den Tumor. Von oben und schräg unten kommend kreisen sie das Problem ein, verweisen auf es, machen es dingfest. Röntgenbild, Pfeil und Indizierung behaupten: Das ist der Tumor im Gehirn der Meinhof. „Tumor und Klammern sind auf dem Röntgenbild zu sehen.“ In der Ableitung sagen sie: Das Gehirn (der RAF) ist krank. Was sie gedacht hat, ist das Ergebnis einer Mutation. „Tumore dieser Art entstehen meist durch Fehlbildungen an Blutgefäßen. Sie sind nicht bösartig, keine Krebsgeschwüre.“ Dennoch liegt die Metapher des Terrorismus als Krebsgeschwür nahe und erscheint die RAF als Tumor im Gehirn der Bundesrepublik. Ein verirrtes Gehirn. Die Verirrung verursacht durch eine Geschwulst, die die Persönlichkeit verändert und Meinhof radikalisiert hat – so die Quintessenz des Beitrags aus dem Frühsommer 1972.

Die ursprüngliche Intention der Text-Bild Zusammenstellung war Pathologisierung. Meinhof und die RAF sollten als unzurechnungsfähig hingestellt, ihr politischer Abweg sollte als psychologisch-physiologische Aberration abgekürzt werden. Es ist eine klassische Ermächtigungsgeste, wie sie normalerweise nach Festnahmen geschieht. Sie unterstreicht die Verfügungsgewalt über den Körper der anderen. Zugleich dient sie der forensischen Absicherung von Identität. Und so ging es auch am Abend von Meinhofs Verhaftung vordergründig zunächst einmal um Identifizierung. Denn die Polizei war unsicher, wen sie da verhaftet hatte. „Meinhof war kaum mehr zu erkennen; auch Fingerabdrücke gab es nicht.“ Was es aber gab, war das Röntgenbild ihres Gehirns, in eben jener Woche im Stern abgedruckt. Meinhof trug das Bild bei ihrer Verhaftung bei sich und wurde aufgrund seiner identifiziert. „Sieben Polizisten brachten [sie] in die Unfallklinik Marienstraße zum Röntgen. Apathisch ließ sie dort die Prozedur über sich ergehen. Die Röntgenaufnahme aus dem Stern hatten die Beamten vorsorglich mit ins Krankenhaus genommen. Um 1.45 Uhr verglich der Nachtdienstarzt die beiden Aufnahmen: Sie stimmten miteinander überein.“

Markus Draper: (2) aus der Serie “Durchleuchten”: PROF. DR. MED. FRANZ BECKENBAUER, 2016, Fine Art Print auf Japanpapier, gerahmt, 59,6 x 85,6 cm

Die beiden Aufnahmen stimmten überein. Der Beweis war erbracht. Die Frau war Ulrike Meinhof. Allerdings hatten nicht ein, sondern zwei Bilder den Beweis erbracht. Erst im Abgleich war Evidenz entstanden. Betrachte ich das Gehirn von Meinhof als Bildproblem, geht es also nicht um ein Bild, sondern um mehrere. Es geht um Doppelbilder, Zusammenstellungen und Beziehungen, die sich aus einem doppelten Sehen ergeben. Es gleicht den Hanging Protocols, mit denen Röntgenbilder in Sequenzen angeordnet werden – ein medizinisches Verfahren, das der kuratorischen Tätigkeit ähnlich ist. Für das Gehirn von Meinhof lassen sich mehrere solcher Hanging Protocols zusammenstellen. Sie korrelieren das Röntgenbild mit Bildern aus der Geschichte der Bundesrepublik, die ebenso historisch wie aktuell sind; und sie vertreten das Röntgenbild aus der Unfallklinik in Hannover, das wir nie zu sehen bekommen haben. „Hinter dem Gewöhnlichen spüren sie das Bizarre, hinter dem Alltag den Abgrund und in der Provinz das Unheil auf. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Optik des BRD Noir.“ Um sie zu erstellen, betrachte ich Ausgaben des Stern, die im Zeitraum der Verhaftung erschienen sind. Auf diese Weise entsteht ein Arrangement der alten Bundesrepublik, die im Sommer 1972 mit Konsum und Abnehmen, mit schmerzfreier Wundversorgung und Leistungsdruck, mit Mord und Mode in der Provinz beschäftigt war und die auch damals schon Katzenbilder mochte.

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