1. Januar 2017

Vom Außeroptischen zum Postfaktischen

 

Elisionen (5)

 

Theodor W. Adorno setzte in seinen Überlegungen zur Ästhetik auf die Farbe Schwarz. "Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch, dass sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farben sich freut." Mit der Popart konnte der Philosoph also wenig anfangen. Gleichwohl schuf Andy Warhol Werke ("Mao", "Hammer and sickle"), die über die jüngere Sozialisationsstufe hinausragen. Der erste vehemente Einsatz der Farbe Schwarz im 20. Jahrhundert war monströs. Malewitsch war in dem präzisen Sinn ein Abdecker, als er "nicht zum Verzehr geeignete" Kunst beseitigen wollte. Tabula rasa. Wie verspielt dagegen der Synästhetiker Kandinsky, der sich die Zuordnungen von Farbe und Form in einer Fragebogenaktion am Bauhaus bestätigen ließ. Es fällt auf, dass die erste Phase der Abstraktion im 20. Jahrhundert ohne geometrische Einfassung oder Vokabular offensichtlich nicht zu haben ist. Darin scheinen sich Künstler und Kunsttheoretiker einig zu sein.

Willi Baumeister etwa zitiert in seinem 1947 veröffentlichten Werk Das Unbekannte in der Kunst den Philosophen Leopold Ziegler, der das Begriffspaar 'mimetisch' und 'poetisch' erläutert: "Ich meine den Unterschied zwischen einer wahrhaft schöpferischen, im platonischen Begriffe 'poetischen' Kunst, die sich im geometrischen Ideogramm, im mathematischen Symbole erfinderisch auslebt: und einer im aristotelischen Begriffe 'mimetischen' Kunst, die sich um eine zeichnerische, bildnerische, malerische Wiedergabe von Wirklichkeit müht." Baumeister, selber kein Mime, sondern Poet, spricht hier in eigener Sache. Er beschreitet den Weg der "formbildenden Kunst". Ein weiterer Stichwortgeber, der Physiologe Max Verworn, benutzt die Begriffe 'physioplastisch' und 'ideoplastisch'. Baumeister: "Der erste Begriff erfaßt die Gestaltgebung der physischen Welt in ihrer Realität. Ein reales Vorbild ist der Kunst übergeordnet. Der zweite Begriff sagt, daß ein Ideelles der bildenden Kunst übergeordnet ist, um dessen Nachbildung es sich handelt. Das Ideelle ist aus dem künstlerischen Empfinden und Tun nicht zu verweisen." Umgekehrt gilt das nicht, wie die Entwicklung der Kunst gezeigt hat, für die physische Welt. Gewisse Entwicklungen und Positionen, etwa die von Klee oder Picasso, haben der Wirklichkeit mehr oder weniger einen Verweis erteilt. Generell ist der mimetische Faktor in der modernen Kunst gering. Das hat man ihr oft, von Rechts und von Links, zum Vorwurf gemacht. Auch Baumeister ist um Begriffe nicht verlegen. Was er das "Außeroptische" nennt, wäre in der Nomenklatura der beiden erwähnten Theoretiker das Mimetische bzw. das Physioplastische. Im Stil der (damals) jüngst vergangenen Zeit kann man von Naturalismus sprechen: "Die Naturalistik kennzeichnet eine Nach-Stellung der Kunst, die Kunst des Formtriebs aber kennzeichnet eine Vor-Stellung oder Voranstellung." Baumeisters Spiel mit den Worten ist bewusst aufschlussreich. Der Mimetiker als Jäger, der ohne das Gejagte nichts wäre, der Poet als primärer Künstler als ein in der Kunstwertigkeit ganz oben Stehender, der etwas vorstellt, auch in dem Sinne, dass er etwas (Neues) zu sagen hat.

Auch wenn das Wort Avantgarde bei Baumeister nicht fällt, es hätte hier seinen Platz. Der Mimetiker schafft (nur) ein Nachbild, der Poet ein Vorbild. Baumeister stellt nicht in Abrede, dass es großartige, vor-bildliche Nachahmer gab. Aber der Zeitgeist, den er selbst vertritt, weist in die andere Richtung, nach vorne, ins "Unbekannte". Ein zentraler Satz in seinem Buch lautet: "Diese Voranstellung einer Erinnerungsform von Naturerscheinungen oder Vorhandensein als Objekt, als Modell, zur Schaffung eines Nachbildes – sind Fakten, die außerhalb des rein sichtbaren in der Malerei liegen." Und kurz danach: "... die Hervorhebung des entsprechenden Objekts zum Vorbild für Malerei, zum malwürdigen Motiv, ist ein außerpoetischer Wert..." Was also bleibt, sind bildinterne Rahmungen, die davon zeugen, dass es "Sichtbares" gibt, ohne die Sicht auf schon Bestehendes freizugeben. Der Künstler als Poet ist Schöpfer eigener Welten, er ist Genie, er ist Experte des Postfaktischen.

Dieter Wenk (12-16)

 

Literatur: Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Köln 1988 (DuMont)