23. Januar 2004

Mobilmachung eines Schweizers

 

Was dem Heidegger seine Füße, das waren Denis de Rougemont seine Hände. Existenzialisten waren sie beide. Der eine wollte schon mal vorlaufen (in den Tod), der andere, wie der Titel sagt, mit den Händen denken. Gemeinsam ist beiden, den Begriff der Person (Dasein) an die jeweilige Verkörperung zu binden. Weglaufen (von sich) gilt nicht. „Man“ kann zu sich kommen, im Moment der unmittelbaren Handlung, in der heroischen Selbstbejahung, im Erkennen der absoluten Gefahr (Dekadenz).

Von der etwas trögen, freiwilligen Isolation, von der das „Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen“ zeugt, ist in dieser Kampfschrift nichts mehr zu spüren. Hier geht es um alles, um die Zukunft Frankreichs (gegenüber Hitler-Deutschland), um die „Zukunft der westlichen Welt“. Der Ausgangspunkt ist der gleiche wie im Tagebuch: Die Kultur greift nicht mehr, sie kreist blind in bloßer Geschäftigkeit. Kulturelle Elite und normale Bevölkerung haben sich nichts (mehr) zu sagen. Doch anders als im „Insel“-Buch stellt der Autor sich hier die Aufgabe, den Punkt aufzuzeigen, wo einstige Befreiung des Bürgertums (gegenüber Adel und „Naturzwang“) umschlägt in Selbstverkettung und Verdinglichung.

Mehr als einmal muss man an Adorno und Horkheimer denken. Die „Dialektik der Aufklärung“ war noch nie eine alleinige Erkennungsmarke der Linken. Aber de Rougemont ist weder links noch rechts, er ist mittig, er steht zwischen den Extremen des liberalistischen Individualismus und des sozialistischen Kollektivismus. Die „Person“ ist das vergessene Ziel und der Zweck, die weder Stalinismus noch Nationalsozialismus bedienen können, auch wenn er beiden Regimes unverhohlen Respekt zollt insofern, als sie sich immerhin auf die Suche nach einem von ihm so sehr eingeklagten „gemeinsamen Maß“ (Nation und Plan) gemacht haben, das den noch verbliebenen westlichen Demokratien völlig abgeht. Seine Abrechnung mit der zeitgenössischen Kultur und Zivilisation ist vernichtend.

Teile davon könnten ohne weiteres im „Völkischen Beobachter“ gestanden haben. Alleine dass Hitler das Wort „Vernunft“ ziemlich häufig gebraucht, ist für ihn ein Beleg dafür, dass der Nationalsozialismus im Prinzip auf dem richtigen Weg ist. Gefährliches Denken, so heißt das dann. Natürlich ist der Autor weder Nazi noch Stalinist, aber er ist totalitär, er beansprucht den ganzen Menschen (das ist die Person), mit der Person die Gemeinschaft (das Wort Kommunitarismus kommt öfter vor) als vorpolitischem Mengenbegriff, der sich aber in verschiedenen Größenordnungen (Staat, Staatenordnung als föderales Prinzip) auch politisch ausbauen lässt.

Das vertrackte an diesem Buch ist dabei, dass es ständig in planetarischen Maßstäben operiert (und sich vielleicht auch mit vergleichbaren Würfen wie Jüngers „Arbeiter“ messen lassen will), die Rede vom „gemeinsamen Maß“ an so etwas wie eine Teilhabe aller an einem „heiligen Gral“ und der Kampf gegen die Dekadenz an irgendeinen großen Wurf denken lässt, das Konzept der wahrhaft aus sich heraus agierenden Person jedoch so sehr ein Büttel des Unsagbarkeitstopos ist („dieser Akt ist definitiv ein Mysterium, das Mysterium selbst der Kommunion“), dass man eigentlich nicht so recht sieht, was ein authentisches „mit den Händen denken“ mit einem gesellschaftlichen Konzept in welcher Größenordnung auch immer zu tun haben soll. Der Existenzialismus ist kein Humanismus, wie es Sartre und de Rougemont wollen, sondern die Moral des Amoralismus selbst, wie man ihn zum Beispiel schon bei Wilhelm von Humboldt finden kann.

 

Dieter Wenk

 

Denis de Rougemont, Penser avec les mains, Paris 1936 (Mit den Händen denken)