26. November 2016

Ganz. Dicht. Dran.

 

Julia Zanges Roman «Realitäts­gewitter», Instagram und das bisschen Welt dazwischen

  

Bei der Lesung von Julia Zange aus ihrem Buch «Realitäts­gewitter» in der Buchhandlung im Aufbauhaus machte ich ein Foto von ihr am Pult mit der seitlichen Aufschrift «Kleines Format – große Geschichten» und stellte es gleich danach auf Instagram. Am nächsten Tag wurde mein Foto vom Aufbau Verlag, bei dem das Buch ein paar Tage zuvor erschienen war, gerepostet und man sieht jetzt deshalb auf seinem Account mein kleines Porträt links unten ins Foto einmontiert. Am selben Abend übernahm Julia Zange den Instagram-Account des ZEITmagazins, mit dem sie mein Foto von ihr likete und ich daraufhin ebenso ihr Selfie. Mit dem Slogan «Wenig Sex, viel iPhone» wird das Leben der Protagonistin des Romans in der Ankündigung prägnant zusammengefasst – warum sollte man darüber in einem Buch lesen?


«Realitätsgewitter» ist das zweite Buch der jungen Autorin, das der Verlag mit der ambi­valenten Empfehlung Maxim Billers anpreist: «Das kann nur Julia Zange: Alle zehn Jahre ein Buch schreiben, das man nicht mehr ver­gisst!» Das soll wohl bedeuten, dass das Buch gut ist, und nicht etwa, dass jede*r andere 150 fast schon in Groß­druck gesetzte Seiten innerhalb kürzerer Zeit vorlegen könnte oder man das Buch aus ärger­lichen Gründen nicht mehr vergisst. Dass es vom ersten zum zweiten Buch so lange dauerte, liegt vermutlich auch daran, dass Julia Zange eine vielbeschäftigte Frau ist: Wer mit Büchern nichts am Hut hat, hat sie vielleicht bereits als Schau­spielerin gesehen, z. B. in den Video­arbeiten von Britta Thie. Oder kennt sie aus dem «Tatort», wo sie Anfang November die kindliche Mörderin spielen durfte. Bald ist sie in einem Film von Philip Gröning zu sehen. Nebenbei arbeitet sie als Redak­t­eurin bei «L’Officiel» und schreibt darüber hinaus noch für andere Magazine. Also alles kein Wunder.

Aber zurück zum Buch und dessen Inhalt: Die Protagonistin Marla lebt im Gentrifizierungs­milieu Kreuzbergs zwischen Fashion-Victims und Medien­menschen planlos vor sich hin, ohne besonders viel auf die Reihe zu bekommen. Be­dauer­licher­weise auch ohne besonders clever zu sein, denn niemand würde sich die Arbeit machen und sich nach der zweiten Studien­woche gleich wieder exmatrikulieren, sondern einfach weiterhin die Studentenrabatte ausnutzen.

Leider hat Marla aber in den Lokalitäten, in denen sie verkehrt, welche es tatsächlich in Berlin gibt und die sie den Lesern und Leserinnen gerne ausführlich erklärt, bei alkohol­freiem Bier nur mäßig Spaß und eine Traurigkeit entströmt jeder ihrer Poren. Exzesse sind zunächst nicht vorgesehen; erst später gibt es doch ein bisschen Drogen. Oft geht sie mit ihrer Peer-Group asiatisch Essen, wodurch sich v. a. der erste Teil des Buches wie ein Buch von Banana Yoshimoto liest. Denn es wird viel aus dem Fenster geschaut. Und geweint. Noch öfter passiert es allerdings, dass das «Weinen aber auch auf halber Strecke, auf Höhe der Brust» stecken bleibt.

Zumindest kann sie ihre Gefühle gut analysieren; zwei davon bekommen Nummern: Nr. 1 ist Intensität und Zauber, Nr. 2 ist Desillusionierung und Ent­täuschung. «Es tut weh, von Gefühl 1 Abschied zu nehmen, auch wenn Gefühl 2 sagt, dass Gefühl 1 eine beschissene Illusion war.» Als sie diese Stelle vorliest, winselt bei der Lesung ihr Hund und Julia Zange sagt zärtlich zu ihm: «Für uns alle.»

Marla hat Angst vor allem und fühlt sich durch ihre Möglich­keiten eher blockiert als inspiriert. Realität ist für sie das, was nicht wegklickbar ist. Oder eben das, was via Social-Media-Kanäle herbeizitierbar ist. Denn «Müdigkeit liegt in der Luft, eine Ergebenheit an die Gegenwart. Die Gesichter sind den Smart­phones zugewandt.» Dabei ist die Handlung sehr zeitgenössisch von Ende 2015 bis 2016 in allgemein bekannte Ereignisse eingebettet: Ai Weiwei posiert am Strand in Lesbos als ertrunkener Flüchtling und inszeniert sich im Konzerthaus am Gendarmen­markt; immer wieder Merkel auf Titelblättern; Böhmermann-Affäre; Überschwemmungen in Berlin, Attentat in Nizza, Trump. Dies alles wird durch die sie über­mittelnden Medien in den Erzählfluss eingeflochten. Man erinnert sich oft beim Lesen, wie man selber von diesen oder jenen Ereignissen erfuhr.

«‹There is so much love. It neutralizes the hate.› Das scheint gerade ein Gesellschafts­prinzip zu sein.» Wenn dem doch nur so wäre! Eine kuschelige Welt gibt es für sie und uns im Jahr 2016 jedoch nur noch als Illusion. Und zwar dort, wo diese durch flauschige Wohl­­fühl­sprache weichgespült ist, z. B. wie bei den zuckersüßen Sprüchen, die Marla in einem Hotelzimmer auf jedem der Ein­richtungs­gegen­stände vorfindet und den ganzen Durch­schnitts­mist darunter fett zukleistert. Wenn sogar für die nichtigste Handlung, wie z. B. ein Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür zu hängen, 25 liebliche Optionen bereitgehalten werden, kann Marla einfach nicht anders, als über­fordert sein, was sie wiederum tiefer in ihre Ab­ge­stumpft­heit drängt. So verloren und verstört wirkt Marla zuweilen, dass es ein Wunder ist, dass sie nicht die Polizei anruft, um zu fragen, wie sie ihr Leben ändern kann.

Der erste Einschnitt muss dann wohl von außen kommen: Der Vater dreht ihr den Geldhahn zu. Allerdings weiß sie immerhin, wie man sich verhalten muss, um auch einigermaßen ohne Geld durchzukommen. Marla bekommt aber durch ihre Kontakte ziemlich schnell einen Job als Redakteurin bei einem Modemagazin. Diese Umstellung wirkt allerdings nur äußerlich – an ihren Gefühlen der Welt gegenüber ändert dies nichts. Erst später, bei einem Familien­besuch, lernt Marla sich zu wehren und abzugrenzen. «Das bin nur ich. Und das ist mein Leben. Und daraus werde ich machen, was ich will.» Bravo! Diese Erkenntnis scheint bei der Dauer­vernetzt­heit unserer Tage, wie Marla sie ausgiebigst zele­briert, immer noch nicht einfach zu haben und weiter­hin nur mit Härten erreich­bar zu sein. Erleichternd ist dabei, dass zu dieser Erkenntnis keine Krankheit oder noch Schlimmeres nötig war.

Hört sich langweilig an, denn Marlas Leben und ihre Luxusprobleme sind einfach nur banal? Be­lang­losig­keiten machen das Schreiben darüber jedoch noch lange nicht belanglos, denn hier stimmen sämtliche Details. Es könnte allerdings sein, dass viele potenzielle Leser*innen im Moment einfach noch zu dicht dran sind an den Inhalten und das Buch mit reinem Befindlichkeitsjournalismus verwechseln könnten. Aber spätestens in ein paar Jahren werden auch sie «Realitäts­gewitter» lieben. Weil die Schilderungen dann: 1. Pathos angesetzt haben werden; 2. das Buch durch die zeitliche Distanz wie eine Zeitkapsel wirken wird und 3. die Welt von heute rück­wirkend darin so drollig erscheinen wird, wie sie es niemals war und immer weniger sein wird. Wir werden uns daran klammern und das Buch mit jeder Faser aufsaugen. Versprochen. Auf die Art, wie heutzutage z. B. die Bücher von Tama Janowitz gelesen werden. Und je früher wir uns 1. darauf einstellen, 2. das Buch unter diesen Aspekten betrachten und es 3. einfach lesen, desto besser. Am besten gleich – es dauert sowieso nur ein paar Stunden, bis man damit durch ist.

Leider verdrängten die Fotos von Julia Zange im Account des ZEITmagazins am Tag darauf bereits meines aus den neun beliebtesten, die unter dem Hashtag #juliazange zu finden waren. Irgendwann werde ich bestimmt noch ein Foto vom Buch posten, mit ganz vielen Post-its drin, damit man sehen kann, dass ich das Buch wirklich gelesen habe – und das auch besonders intensiv. Ich nehme dazu absichtlich Klebezettel in verschiedenen Farben, damit man denken könnte, sie hätten bestimmte Bedeutungen.

Norbert Bayer

 

Julia Zange: Realitätsgewitter

Gebunden mit Schutzumschlag, 157 Seiten, Aufbau Verlag 2016, 17,95 €  

 

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Foto: Julia Zange: Christian Werner/Aufbau Verlag