Artenvielheiten
Martha heißt die letzte von ehemals Hunderttausend, wenn nicht Millionen Wandertauben in Amerika. Sie starb 1914 im Zoo von Cincinnati. ATAK lässt Martha in einem schmalen Bilderbuch ihre Geschichte erzählen. Beides, Text und Bilder, sind von Atak selbst. Der Text ist sehr dünn, die Bilder umso stärker. Ich weiß nicht, wie oft ich ATAK schon öffentlich bewundert habe. Er ist ein großartiger Künstler. Nicht im Corot-Rubens-Friedrich-Turner-Weltkünstlersinne, sondern in meinem bescheidenen Heimsinne. Er ist einer, mit dessen Bilder zu leben ich mir vorstellen kann. Vielleicht hält diese geniale Beiläufigkeit den Kunstbetrieb davon ab, ihn für sich zu entdecken. Nicht dass er sich in irgendeiner Weise bei diesem jemals angebiedert hätte, doch in fast jedem seiner Bücher gibt es Verweise auf die Kunstwelt. Diesmal, wir erinnern uns, es geht um die letzte Wandertaube, auf Zöllner Rousseau und Casper David Friedrich, Walt Disney, Hergé, Peter Doig, Lichtenstein, Simpsons, Beavis and Butthead und Hieronymus Bosch. Auch wenn der sparsame Text nahelegt, dass es sich hier um ein Kinderbuch handelt, und die zunächst naiv wirkenden Bilder dies auf den ersten Blick noch zu unterstreichen scheinen, wird auf den zweiten Blick deutlich, dass es sich hier gerade nicht um eine sich bewusst anbiedernden Unterforderung an eine von Erwachsenen erdachten Kinderwelt handelt. Kinder können mit diesem Bilderbuch langsam älter werden, denn selbst ihre Eltern werden nicht alle Ikonen und ironischen Verweise aus ATAKs Leben, die er in den Bildern untergebracht hat, lesen können. Hier tagt das innere Entschlüsselungskomitee von Kind und Eltern noch bis lange nach Feierabend.
Bereits in Alexander Dumas’ kapitalistischer Abenteuererzählung »Kapitän Pamphile«, der sich auf dem Meeren des Kapitals bewährt, von 1836 wird die Wandertaube als Massenphänomen eindringlich beschrieben. Auch Jean Francoise Millet widmet sich dem Töten der Wandertaube 1874. Und Walter Ford nahm den Mythos 2002 in Retromanier wieder auf. Bei Dumas und Millet geht es, wie bei ATAK, um massenhaftes, rauschhaftes, ekstatisches Töten. Es geht um den Gier-Impuls, bis zu Erschöpfung. Wenn in einem einzigen Moment möglichst viel aus der Masse herausgeholt werden muss. So viel wie möglich, nicht so viel wie nötig. Getötet wird hier mehr als nur zum eigenen Genuss, ja selbst nicht einmal für den Handel. Denn je mehr Vögel geschossen werden, desto billiger werden sie auch dem Markt. Einfrieren, um die Preise zu kontrollieren, ging derzeit noch nicht. Auch dies ein Lehrstück für Kinder, die erwachsen werden wollen.
Dabei braucht der Mensch die bestehende Artenvielfalt nicht zum Überleben. Er kann auch mit weniger auskommen, nur ist er dann einsamer. Was rein wissenschaftlich klingt, birgt eine poetische Warnung. Denn Tiere sind lebendige Mittler und das nicht erst seid Ovids »Metamorphosen«, sondern ganz offensichtlich. Sie vermitteln zwischen Himmel und Erde, Wasser, Erdoberfläche und -innerem, Tag und Nacht sowie den Jahreszeiten. Sie leben dort, wo der Mensch es nicht kann. Und so weisen sie ihm seinen Platz zu. Sie berichten mit ihrem weltab- und zugewandten Dasein von unserer Anwesenheit. Der Mensch übt eben nicht den Flug der Vögel, wie uns moderne Mythen weißmachen wollen, sondern den der Steine. Nach Darwin sichert Verhaltensvielfalt die Überlebenschancen jeder Spezies. So wie manche Vögel im Winter hierbleiben, während andere der gleichen Spezies den beschwerlichen Weg nach Afrika auf sich nehmen. Da dem Menschen keine Schwarmintelligenz gegeben ist, auf die er sich verlassen kann, sollte er vermehrt auf seine Artenvielheiten achten. Dass er massenhaft töten kann, hat der oft genug bewiesen, jetzt geht’s ums Bewahren und Pflegen jedes Abweichlers.
Christoph Bannat
ATAK: Martha. Die Geschichte der letzten Wandertaube (Hardcover), Aladin-Verlag, 19,95 Euro |
Veranstaltung im Museum für Naturkunde , Invalidenstraße 43, 10115 Berlin , Do / 08.09.2016 / 19:30 bis 21:00 Buchpräsentation: Martha - Die Geschichte der letzten Wandertaube |
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