Ding Dings Ding Dong
Dieser Comic weckt Hoffnungen. Gebt dem Mann alle Preise, alle Stipendien, alle Vorschüsse. Bezahlt ihm lebenslang die Miete. Gebt ihm ein all you can buy-Ticket für den örtlichen Bio-Laden seiner Wahl. Gebt ihm überall Besprechungen, von mir aus auch Ausstellungen. Gebt ihm keine gut dotierten Monatsstrips in überregionalen Zeitungen oder Aufträge für Literaturillustrationen – nicht dass er uns da hängen bleibt. Gebt ihm Übersetzungen seiner Bücher in alle europäischen und südamerikanischen Sprachen. Vielleicht auch ins Arabische. Lasst ihn nicht in Berlin, Hamburg oder München, geschweige denn Barcelona, London oder New York wohnen, auch wenn die Meinungsführer hier ihr zu Hause haben. Er soll unser Echolot in der deutschen Provinz bleiben, dort leben schließlich mehr Menschen als in allen deutschen Großstädten zusammen. Gebt ihm auch keinen Stadtschreiberposten oder richtet ihm gar ein Zimmer in einem Flughafen ein, auch wenn das der Ort ist, an dem sich Piktogramme beweisen. Die Buchstaben einer jungen internationalen Bildsprache, die es seit den 20ern, dem Beginn der modernen Massenkultur, gibt. Isotype Englisch: International System of Typographic Picture Education. Die zur Münchner Olympiade mit Team Aicher ihre Erfolgsgeschichte weiter, ins Alltagsleben, schrieb. Bei Max Baitinger, so heißt der Zeichner des Comics mit dem Eigennamen „Röhner“, kollidiert dies allgemeingültige Zeichen-Sprach-Leitsystem mit einer persönlichen Geschichte. Alles wirkt wie am Computer gezeichnet, sieht man aber genau hin, erkennt man sie als aufwendige Handzeichnung, vermutlich mit dem Rapidografen aufs Papier gebracht. Röhner erzählt in der entpersonifizierten Metasprache von Piktogrammen und verschneidet sie mit dem Gefühlsleben eines Bartleby oder Kafkas Hungerkünstler. Hier geht es um die Innenansicht von P. (so heißt der Hauptprotagonist), der sich im uneigentlich eigenen Leben eingerichtet hat. P. bekommt Besuch von seinem ehemaligen Freund Röhner, der bei ihm schlafen will. Schon das stört P., und als Röhner noch die Nachbarin anbaggert, eskaliert die Geschichte – wenn auch nur in P.s Fantasie, an der wir teilhaben dürfen – was für’n Glück.
Anders als Melvilles Bartleby oder der Kafkas Hungerkünstler hat sich P. nicht in einem fremden, sondern im eigenen Leben eingerichtet. Nichts ist da und nichts fehlt, könnte der Leitspruch seines Single-Lebens als Durchschnittspiktogramm lauten. Würde P. auf den gezeichneten IKEA-Aufbauanweisungen auftauchen, es würde einen kaum überraschen. Er ist ein lethargischer Nullnummertyp, um den herum sich die Charaktere formieren. Damit ist er ein klassischer Romantyp à la Robert Walsers Büroangestellten, Chris Wares Jimmy Corrigan, Gontscharows Oblomow oder wie sie in Turgenjews Meistererzählungen in Erscheinung treten. Menschen, die sich in die eigenen inneren Wände zurückgezogen haben und diese langsam mit ihren Fantasien möblieren. Moderne Mittelschichtstypen mit adliger Langeweile, bei der sich alle Bewegungen nur in ihren Vorstellungen abspielen. Das berührt die proustisch-joycestischen Momentphilosophie, dass sich in diesem ein ganzes Sozial-Leben, ja die ganze Welt zu brechen vermag. Man muss diesen eben nur zu deuten wissen. Baitinger macht das, indem er P.s Befindlichkeiten auf alle Dinge im Raum überträgt und sich hier als besonders feiner Beobachter zeigt, schreibt er eine moderne Geschmackstypologie. Der Kontrapunkt in P. eingerichtetem Leben ist seine Nachbarin, die er nur Dings nennt. Übrigens ein geschickter Verweis auf Rudolphe Töpffers Misieu Vieux Bois’ Objekt der Begierde namens Ding. Gleichzeitig taucht P.s Dings phonetisch im Ding-Dong seiner Türglocke auf. Dings führt ein ganz anderes, nicht weniger desolates, wenn auch stilistisch vielseitigeres Leben, denn sie verdient ihr Geld, indem sie Dinge im Internet kauft und verkauft. Keines dieser Dinge gibt ihrem Leben eine Form. Stil ist hier nur eine temporäre Wertschöpfungsmaschine. Dings in allen Stilen zu Hause, während P. sich im vorgelebten Niemandsland mit IKEA-Geschmack eingerichtet hat. Baitinger trifft den Nerv von moderner Einsamkeit und Massenindividualismus. Eine Gesellschaft, in der jeder sich seine Turnschuhe selbst gestalten kann und dann alle gleich individuell aussehen. Doch P. bleiben seine Rituale, die bekanntlich immer einen hohen Prozentsatz an Sinnlosigkeit aufweisen müssen, welcher dann den jeweils den Selbstwert bestimmt. Für P. ist das das Espresso-Kochen. Röhner kreuzt diese Rituale und stellt sie so infrage. Daraufhin entwickelt P. Gewaltfantasien gegen Röhner, natürlich nur vor dem innerem Auge, zum Glück für uns sichtbar. Als Röhner dann noch Dings anbaggert, beginnt P. zu leben – versteht man unter erwachsenem Leben, Widersprüche und Gegensätze mehr oder weniger auch aushalten zu können.
Max Baitinger zitiert Stile, bis zum i-Tüpfelchen und karikiert sie gleichzeitig. Vom Wasserkocher bis zur Henningsen-Lampe, vom Tiger-Badetuch bis zu Irish-Doors-Poster zum Da-Vinci-Buch. Und all diese Dinge sprechen miteinander, anderseits spricht ihre Stellung im Raum, als lineare Fluchtpunktlose Dokumentation, als Zentralperspektive, Explosionszeichnung oder Isometrien, Türspion-Fischaugen-Weitwinkelperspektive, symbolische Platzhalter oder schematischen Bewegungsabläufen. Wobei Bewegung, und das berührt die Momentphilosophie, bei Baitinger immer wie eingefroren erscheint – auch das kann als Statement gelesen werden – und wenn nicht Statement, so arbeitet es doch zumindest der gesamt Atmosphäre zu. So, wenn die Falten der zerknüllten Bettdecke als einziger Verweis auf bewegtes Leben, Leben heißt auch hier Bewegung, wie schockgefroren dargestellt werden. Zwei Drittel des Buchs werden von den Dreien: P., Röhner und Dings bestimmt, im letzten Drittel geht es dann noch psychedelisch, nicht ohne Anrufung der Staatsgewalt, also etwas freier, was Orte und das Innenleben betrifft, zu. Der Stil aber bleibt der gleiche; Max Baitinger eben.
Wer sich für Pierre Bourdieus Diagramme in „Die Feinen Unterschiede“ begeistern konnte, sollte sich auch für Röhner begeistern können. Wer sich für Otto Neurath interessiert, den sollte auch Max Baitinger interessieren. Wen Neufert Bauentwurfslehre fasziniert, der sollte einen Baitinger daneben stellen, und wer sein Bildwörterbuch liebt, wird auch Baitinger lieben.
Christoph Bannat
Max Baitinger: Röhner
216 Seiten, s/w, 15,3 x 21 cm, Klappenbroschur
Rotopolpress, 22,00 €