15. Juni 2016

Nordpolschleife

 

Den Titel dieses Buches habe ich nicht verstanden, aber die Musik von Erik Satie begleitet mich schon sehr lange. Soll es ein "linker" Titel sein? Weil Satie irgendwann Kommunist wurde? Aber ohne dass Käthe Kollwitz, nur ein Jahr jünger als Satie, Parteimitglied war, machte sie politische Kunst, Satie zu keiner Zeit seines Lebens. Viel eher könnte er, darauf deuten einige seiner Titel hin, ein humurvoller oder gar witziger Programmmusiker sein: "Drei Stücke in Birnenform", "Bürokratische Sonate", "Sport und Zeitvertreib", um nur einige zu nennen. Wie ernst ist es ihm gewesen mit seiner "Einrichtungsmusik"? Die geht offensichtlich über das hinaus, was zu Saties Zeiten als "Muzak", anders bekannt als "funktionelle Hintergrundmusik" zum Beispiel in Geschäften, berühmt und berüchtigt wurde. Während Muzak direkt auf das Unbewusste wirken soll, kommt man an Saties Iterationsstück nicht vorbei, es ist im Heideggerschen Sinn "aufsässig" und so dauerhaft wie der Schrank, den es vielleicht in dessen Materialität vertonen soll. Bekannt wurde Satie aber mit Musik, die man wirklich hören kann. Eines seiner Frühwerke sind die legendären "Gymnopédies" aus dem Jahr 1888. Leute, die zum Beispiel Louis Malles Mein Essen mit André gesehen haben, werden wahrscheinlich nicht mehr genau sagen können, was da so geplaudert wurde, abgesehen davon, dass es immer um das Eigentliche und das Uneigentliche ging (schon wieder Heidegger), aber sie werden sich noch sehr genau des Einsatzes des Zauberers Satie erinnern. Aber Satie – ist das nicht die simpelste Musik, die man sich vorstellen kann? Ja, sie scheint einfach, doch das erklärt gar nichts.

Der Pianist und Musikschriftsteller Tomas Bächli macht den ehrenwerten Versuch, den Musiker Satie nicht nur in verschiedenen Gesprächen etwa mit Kollegen aus dem Musikbereich vorzustellen, sondern ihn auch mittels musikalischer Analysen und Werkbetrachtungen als Komponisten begreifbar zu machen. Der Verlag hat dazu löblicherweise mit dem Autor eine Plattform im Internet bereit gestellt, auf der man je nach musikalischem Vorwissen diesen Analysen folgen kann. Aber für den bloßen Genießer braucht es das nicht. Der lässt sich vielleicht eher von der folgenden Selbstauskunft des Komponisten beeindrucken: In einem Brief an seine einzige beglaubigte Geliebte, Suzanne Valladon, heißt es: "Für mich gibt es nur die eiskalte Einsamkeit, die meinen Kopf mit Leere und mein Herz mit großer Trauer füllt." Die Beziehung dauerte immerhin ein halbes Jahr. Und ist nicht ein großer Teil der Werke Saties Musik eines distanzierten Menschen? Ich würde von gefrorener Romantik sprechen, man sieht sich beim Leben als Nichtleben zu und wird selbst Teil der Musik. Und hat nicht Schelling von Architektur als gefrorener Musik gesprochen? Wäre das die Pointe der musique d'ameublement?

Vor 150 Jahren wurde Erik Satie geboren. Danke für die Musik.

Dieter Wenk (6-16)

 

Tomas Bächli: Ich heiße Erik Satie wie alle anderen auch, Verbrecher Verlag 2016 

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