Familiensoziotop
Kleinfamilie unter Druck. Genauer: die amerikanische White Anglo-Saxon Protestant, kurz WASP genannte Mittelschichtfamilie. Also jene, die sich als die zuverlässige Keimzelle der modernen Gesellschaft darzustellen weiß. Für deren Erhalt läuft die Propagandamaschine der Massenmedien, offen und versteckt, auf Hochtouren. Eine Maschine, zu der auch der Comic zählt. Erfolgsserien wie die Bundys (Eine schrecklich nette Familie), Simpsons oder Breaking Bad zeigen, welcher Druck auf ihnen lastet. Aber auch so extreme Phänomene wie School-Shootings, deren Täter ausnahmslos männlich sind und aus der weißen Mittelschicht kommen. Wie die einzelnen Familienmitglieder sich unter erhöhtem Außendruck verhalten, zeigen die genannten Serien exemplarisch. Bei den Bundys versucht jedes Familienmitglied noch bis zum letzten Moment, die eigene Haut zu retten. Anders bei den Simpsons, hier halten bei erhöhtem Außendruck letztendlich alle zusammen und schützen sich gegenseitig. Breaking Bad ist die einzige Serie, die den Familienmythos hinterfragt, den Preis des Zusammenhalts in Relation zu Wahrheit und Glück setzt. Doch letztlich (Gesetz der Serie) bleiben alle Familien zusammen.
In Europa ist das etwas anders, dazu aber ein anderes Mal. Ich frag mich nur, was eigentlich meine autobiografischen Comichelden der 90er machen, diese müssten doch bereits eigene Familien haben? Warum sie nicht aus den Familien heraus berichten? Comic-Familienserien von Frank O. King, All Capp, Chris Ware, Squizzy, Li’l Abner und Jimmy Corrigan machten das über einige Jahre. Diese Kultur scheint heute verloren. Das Disney-Imperium kann ich einfach nicht ernst nehmen, oder ernst genommen, verachte ich es. Comics, die aus Familien berichten, erscheinen heute nur noch als Einzelheft oder Sammelbanden und für eine groß angelegte Geschichte nicht geeignet. Eher stehen Comics für Coming-of-Age-Bewährungsgeschichten, Boy-meets-Girl-Verwicklungen und kampferprobte Wahlverwandtschaften elternloser Kinderwelten. Wer erzählt von Exzessen der Banalität, von Giganten der Normalität und dem sexuellen Alltag in der Familie? Wer vom kapitalistischen Druck, unter dem diese Mittelschichtsfamilien stehen? Kapitalistisch meint hier auch den mentalen Kapitalismus, die Anhäufung und Verteilung von Beachtung innerhalb der Familie sowie deren Akkumulation. Bei den Bundys, Simpsons und Breaking Bads sehen wir, wie mentales Kapital eingesetzt wird. Wie sie Kredite aufnehmen, mit Krediten Kredite bezahlen und ggf. in Geld umwerten. Kredit ist dabei als symbolische Handlung eines Vertrauensbeweises zu verstehen. Die Familie als Bank oder Staat. Zusammengehalten durch die Familienmythos-Legenden, -Erzählungen, das Gesetz der Serie, Sagen und Versprechen. In diesem Zusammenhang heißt Kritik, sich nicht dermaßen, also von diesen Mythen (Überlieferungen), beherrschen lassen zu wollen. Was nicht heißt, dass man sich nicht beherrschen lassen will, aber eben und das macht den Unterschied, nicht dermaßen.
Was also ist mit den amerikanischen Mittelschichts-Comiczeichnern; Daniel Clowes, Adrian Tomine, Charles Burns, Richard McGuire? Wo bleiben Julie Doucet, Peter Bagge, Art Spiegelman, Chester Brown (hat es mit seiner Prostitutionsgeschichte versucht), Minou Zaribaf, Andreas Michalke, Tim Dinter, Uli Lust, Markuss Golschinski (kennt keiner mehr) mit ihren Familien-Antifamiliengeschichten? Einzig die Hernandez-Brüder berichten aus einem Familiensoziotop. Wo ist die sensationell jugendliche Selbstbegeisterung, bei neu entdeckten Sexpraktiken oder beim ersten grauen Haar geblieben? Warum schreiben sie nicht aus den Familien, in die sie heute verwickelt sind, heraus? Vielleicht entspricht so jemand wie Ralf König oder OL noch am besten diesem Wunsch. Ich vermute, dass es bei meinen autobiografischen Comichelden ein Tabu gibt, unmittelbar aus ihren Familien heraus zu erzählen. Und vermutlich liegt die Lösung dieses symbolischen Problems wieder einmal bei George Herrimans Krazy Kat und seinen tierischen Institutionen von schmerzhafter Beachtung, moralischer Verhinderung und vermaustem Familienleben. Denn Lust holen sich hier alle außerhalb ihrer Spezies.
Davon abgesehen sehe ich einen weiteren Unterschied. Während in Amerika die Bedrohungsszenarien, betreffend der WASP-Familie, immer wieder erneuert werden müssen, kämpft Europa noch mit seinen gefühlten Grenzen. Mit (sogenannten) nationalen Verlustängsten, die sich an (sogenannten) nationalen Identitäten manifestieren. Als wäre Identität eine feste Größe. Und natürlich ohne eine Infragestellung der grenzenlosen Macht des Kapitals (dessen Krankheit bezeichnenderweise die Depression ist). Gleichzeitig werden auch Menschenrechte als grenzenlos bezeichnet, die wiederum mit den begrenzenden Bürgerrechten kollidieren, was wiederum den Hass auf die Demokratien, als verlogene Institutionen, schürt. Das ist heute die zugegeben grob gezeichnete mentale Landkarte Europas. Aber zurück zu den amerikanischen Ängsten der weißen, vernunftbetonten Mittelschicht, aus der wir unsere Comicmythen beziehen. Hier einige (na ja) Neuerscheinungen:
Richard McGuire, Hier. Ein Buch feiert den Moment in der vergangenen und zukünftigen Geschichte. Hier wird Besitz als feste narrative Größe kultiviert. Erzählt wird anhand eines Zimmers in einem Haus. Inklusiv der archäologischen und zukünftig möglichen Geschichte. Berichtet wird vom ehemaligem Sumpfland unter dem Haus und der verseuchten Erde nach der Katastrophe. Kunst erscheint in diesem Comic als die bürgerliche Signatur einer verlängerten Halbwertszeit. Mit Verweisen auf Jan Vermeer als mögliches „Original“ und später als Poster. Szenen von Plain-Air-Malerei oder Verweise auf eine Hard-Edge-Moderne à la Piet Mondrian. Häuser als Geschichtsspeicher kennen wir aus amerikanischen Horrorfilmen. Häuser, in denen eine unerledigte, halb tote, lebendige Vergangenheit auf ihr Ende, ihre (Er-)Lösung wartet. Leider sehen die von McGuires gezeichneten Menschen zu fotoaffin und unpersönlich, dann aber auch nicht unpersönlich genug aus – so klafft der Gesamteindruck auseinander. Außerdem entschied sich der Dumont-Verlag für ein taschenfreundliches anstelle eines Coffee-Table-Formats, was hier angemessener wäre. Vielleicht passiert das bei der nächsten Auflage in tausend Jahren.
Adrian Tomine, Eindringlinge. Shortstorys über Beziehungsmodelle. Von der Selbstverwirklichungsstrategien in der Kleinfamilie bis zum Überleben durch Kleinkriminalität vereinsamter Drogenhändler. Kunst erscheint hier als Versprechen, seine Ich-Krise gesellschaftlich gewinnbringend zu verwerten, als Comedian oder Land-Art-Künstler. Und mit den letzten Worten zum Schluss des Buches kehren alle Protagonisten in den Schoß der Gesellschaft zurück, um (Zitat) ... „einer von ihnen zu werden“. Womit die einkaufsgeile „fröhlich plappernde“ weiße Mittelklasse gemeint ist. Adrian Tomine ist reifer und variantenreicher in seinen Zeichnungen geworden.
Daniel Clowes, Patience. Eine klassische „Zurück in die Zukunft“-Erzählung, versetzt in die untere amerikanische (kunstlose) Mittelschicht. Ein Pärchen, zwei Einzelgänger, er ohne Job, bekommen ein Kind. Sie ist schwanger und wird ermordet. Um diesen Fall zu lösen und sich zu erlösen, denn anfangs ist unklar, ob nicht er den Mord begangen hat, beamt er sich in ihre Vergangenheit. Dort muss er die Geschichte so reparieren, dass ihre werdende Familie eine gemeinsame Zukunft hat. Eigentlich ein klassischer Psychotherapiestoff, in dem der Patient in die eigene Vergangenheit steigt. Also ein klassischer Orpheus-und-Eurydike-Stoff. Bei Patience mit Happy End. Der Hades ist hier das Reich der Vergangenheit seiner Frau, mit ihren untoten Erlebnissen. Dass die Vergangenheit nicht tot, ja nicht einmal vergangen ist, wissen wir spätestens sein William Faulkners legendärem Zitat. Schade, dass Clowes’ Protagonist nicht selbst der Mörder seiner Frau ist, das wäre dann der Cliffhanger für weitere Geschichten. Und so richtig entscheiden mag man sich auch nicht, ob dieser Vergangenheits-Hades nicht der trostlosen Tristesse eines amerikanischen Untere-Mittelschichtslebens heute vorzuziehen ist.
Charles Burns, Zuckerschädel. Sein Protagonist bleibt auf dem Orpheus-Trip in die Unterwelt stecken. In Punk-Rock-Klamotten aus den späten 70ern, als Performance-Künstler, beladen mit Schuldgefühlen seiner das gemeinsame Kind alleinerziehenden Ex gegenüber. So macht das Coverbild (Burns’ „Problem“?) von Zuckerschädel Sinn. Ein vom Taschenlampenlicht beleuchtetes Kinderskelett in einer fremdartigen (Unter-)Welt. Sieht so heute der Mann im Tin-Tin-T-Shirt, der in seiner Performance-Rock’n’Roll-Comicwelt lebt und nicht erwachsen werden will, aus? Der für sein Sperma keine Verantwortung übernimmt? Ging es Orpheus ähnlich? Er, der verliebt in sein (Macht-)Instrument (Gitarre/Lyra) in den Hades stieg, um zu sehen, wie weit seine Macht (die Götter zu korrumpieren) reicht? Brauchte er die Frau (Eurydike) nur als Projektion seiner Bemühungen? Orpheus scheint es Beweis seiner Macht genug, dort wo noch nie ein Mensch zuvor war gewesen, zu sein, drehte er sich deshalb um? Es sieht so aus, als wollte Orpheus gar keine lebendige Beziehung zu Eurydike, als wäre ihm die Geschichte seiner Macht Leben genug. Eurydike als Mythos, und eben nicht als lebendiges Wesen. Als wollte er sich an keine lebendige Beziehung anpassen wollen. Eine, die er nicht, wie seine Lyra, im Griff hat. Orpheus wollte sich lediglich mit-, nicht aber genetisch teilen.
Christoph Bannat
Richard McGuire: HIER, 304 Seiten, DuMont Verlag, 24,99 €
Adrian Tomine: Eindringlinge, 120 Seiten, Reprodukt, 24,00 €
Daniel Clowes: Patience, 180 Seiten, fantagraphics, 29.99 $
Charles Burns: Zuckerschädel, 64 Seiten, Reprodukt, 20,00 €
Pieter de Poortere: Dickie (nur als Bild. Ein anderes Beispiel von: Zurück in die Zukunft), 216 Seiten, avant-verlag, 29,95 €