Die Besuche eines Freundes
Ich hatte mal einen Freund. Der besuchte mich von Zeit zu Zeit. Er sprach nicht viel, was mich nicht störte. Dieser Freund saß da bei mir in meinem Sessel und es schien immer so, als ob er etwas erwartete. Einmal sagte ich ihm, dass es mir immer so scheine, als ob er etwas erwarte. „Nein“, antwortete er nach einer Weile. „Vielleicht, das irgendwas passiert“, fügte er nach weiteren Minuten des Schweigens nachdenklich hinzu. „Also doch! Aber was soll denn passieren?“, fragte ich ihn. Er wusste es nicht. Als er ging, bemerkte er zum Abschied, dass dies ein guter Besuch gewesen sei und dass er sicher bald wiederkommen würde. Ich entgegnete ihm, dass er mir jederzeit willkommen sei.
Ein anderes Mal, als mein Freund bei mir war, lief der Fernseher. Mein Freund setzte sich wie immer in den Sessel und schwieg. Irgendwann fragte er mich, was da los sei, und wies zum Fernseher hin. „Sie wählen einen neuen Papst“, erklärte ich. Er blickte auf den Bildschirm.
„Warum?“
„Der alte Papst ist tot.“
Pause.
„Tot?“
„Ja.“
Pause.
„Vielleicht sollte man’s dann damit gut sein lassen?“
„Womit?“
„Mit ’nem Papst.“
„Da musst du die Katholiken fragen.“
Pause.
„Vollkommen sinnlos.“
„Das läuft so seit Jahrhunderten.“
Pause.
„Das macht’s noch sinnloser … Was ist jetzt los?“
„Weißer Rauch. Sie haben einen neuen gewählt.“
Pause.
„Haben se den alten verbrannt?“
Ich lachte und verneinte.
„Kannst du das mal ausmachen. Fernsehen ist anstrengend.“
„Willst du nicht wissen, wer’s geworden ist?“
Pause.
„Nein.“
Ich schaltete den Apparat aus.
Ein anderes Mal, als er mich besuchte, war er nach kurzer Zeit in meinem Sessel eingeschlafen. Später, als er wieder erwacht war, fragte ich ihn, ob er nachts wenig geschlafen habe. Er antwortete – wie immer nach einer halben Ewigkeit – dass er nachts meist wenig schlafe und dass Schlaf ohnehin überbewertet sei. Ich widersprach vehement und führte gleich eine ganze Reihe von Gründen auf, warum Schlaf im Grunde das Tollste der Welt sei. „Na, dann lass mich doch ’ne Weile pennen“, entgegnete er knapp, und kurz darauf war er tatsächlich schon wieder eingeschlafen. Ich ging in die Küche, machte den Abwasch und wurde schläfrig. Ich hätte mich gerne hingelegt, aber ich hatte ja Besuch.
Einmal kam mein Freund, nachdem er bei der Blutspende gewesen war.
„Warum warst du bei der Blutspende?“, fragte ich ihn verwundert.
„So was wollte ich schon immer mal machen“, gab er mir zur Antwort.
„Aha.“
„Ist aber gar nichts passiert.“
„Wieso?“
„Die Rote-Kreuz-Frau fragte mich nach – wie heißt das – nach meiner sexuellen Gesinnung. Da hab ich der einfach gesagt, ich sei schwul. Das war’s dann.“
„Wie, das war’s dann?“
„Schwul sein kommt nicht gut an beim Blutspenden. Wollen die nicht.“
„Tatsächlich?!“
„Ja, dann bin ich halt wieder gegangen. Irgendwann geh ich da noch mal hin und sag denen, ich bin Bi, vielleicht darf ich dann ja ein bisschen was spenden.“
„Ja genau, den heterosexuellen Teil deines Blutes.“
„Oder ich sag, ich bin asexuell, dann saugen die mich wahrscheinlich völlig aus.“
„Musst du mit rechnen.“
Fünf Minuten später war er in meinem Sessel eingeschlafen.
Ein anderes Mal brachte mein Freund einen Jungvogel mit – eine Amsel, Dohle oder so etwas in der Art – den er auf dem Fußweg gefunden hatte. Wir wussten nicht genau, was wir tun sollten, so fuhren wir zu einem Tiernahrungsgeschäft und kauften, nach einer sehr freundlichen Beratung, etwas Tierfutter und eine Pipette. Meinen Freund schien die ganze Situation zu überfordern, so widmete ich mich dem ständig zitternden Federvieh und trichterte ihm eine Art Brei ein. Mein Freund bemerkte, dass ich mich dabei besonders geschickt anstellte, und schlug vor, den Vogel über Nacht bei mir zu lassen. Ich willigte ein. Wir ließen das Tier in einem Schuhkarton auf dem Balkon, da der Wetterbericht eine ungemein milde Nacht angekündigt hatte und der schweigsame Piepmatz so auch genügend frische Luft bekommen würde. Als mein Freund ging, sagte er, dass es heute ein sehr aufregender Tag gewesen sei. Ich pflichtete ihm bei und er verabschiedete sich von mir.
Am nächsten Morgen war der Vogel tot. Ich erinnerte mich an die Worte der Tierfutterverkäuferin, dass die erste Nacht bei gefundenen Jungvögeln die kritischste sei und dass man sich keine Vorwürfe machen bräuchte, wenn das Tier nicht überleben sollte. Vorwürfe machte ich mir tatsächlich keine, allerdings beschäftigte mich die Frage, wohin mit dem Kadaver. Nach reichlicher Überlegung stopfte ich ihn in eine leere Dose Mung-Bohnen und warf das Ganze in den Gelben Sack. Als mein Freund am Nachmittag erschien, hatte er den Vogel zuerst vergessen. Irgendwann erinnerte er sich und fragte mich nach dem Tier. Ich sagte ihm, der Vogel hätte die Nacht gut überstanden und sei heute Morgen weggeflogen. Zufrieden zündete sich mein Freund eine Zigarette an und schlurfte auf den Balkon. Einen Moment glaubte ich, dass er etwas länger zu dem Gelben Sack in der Ecke schaute als normal, aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein.
Einmal kam mein Freund und brachte eine Flasche Wodka mit. Das Zeug hatte ihm sein Mitbewohner geschenkt, der sich für eine Zeit in eine Entzugsklinik einweisen lassen wollte. Wir teilten uns die Flasche und kamen sehr bald in gehobene Stimmung. Irgendwann fing mein Freund an zu singen, was ich zuvor gar nicht geahnt hatte, dass er das so gut konnte. Obwohl er etwas mehr als die Hälfte der Flasche getrunken hatte, lallte er kein Stück und sang vielmehr klar, laut und ausdauernd. Ich war ganz ergriffen. Einen so netten Abend hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Später in der Nacht kam dann die Polizei. Aber die wollte gar nicht zu uns, sondern zu der albanischen Familie in der Wohnung über mir. Nachdem sie die Familie abgeholt hatten, die Schreie und das Weinen der Kinder im Treppenhaus wieder verstummt waren, hatte mein Freund die Lust am Singen verloren, und auch mir schien es jetzt etwas unpassend. Müde verabschiedete er sich von mir. Ich genehmigte mir den letzten Schluck Wodka aus der Flasche und ging schlafen.
Mein Freund kam nicht mehr. Ich hatte sehr gehofft, dass er noch einmal kommen würde, aber er tat es nicht. So war es halt. Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt, dass mein Freund mich nicht mehr besuchte. Es ist sehr schade, wenn man einen Freund verliert, aber letztendlich nicht zu ändern. In der Wohnung über mir wohnt jetzt ein kinderloses Akademikerpaar. Was sollen sie auch machen, Kinder sind in diesem Haus seither strikt verboten. Ich schenke mir noch mal das Glas mit Wodka voll und lege mich hin und warte auf den Schlaf, der nicht kommen will.
Jörn Birkholz