29. Februar 2016

Besichtigungen

 

Hatte der Westen etwas falsch gemacht? Vor nicht allzu langer Zeit ist ein gesellschaftliches Großprojekt namens Sozialismus im Sande versackt. Hätte man – vom Westen aus – nicht dieses Unterfangen noch so weit stützen können, dass es als stolzes Experiment tapfer hätte in die Zukunft schreiten können? Nicht dass der in der DDR erfolgreiche Autor Hermann Kant diesen Wunsch in irgendeiner Weise geäußert hätte; aber angesichts der von ihm konstatierten desolaten sozialen Verhältnisse ein Dutzend Jahre nach der Wiedervereinigung meldet er einen Verdacht an, würdig, am geschichtsphilosophischen Gewissen der Menschheit zu kratzen. Vielleicht hätte ja doch noch alles anders werden können. Vielleicht war MAN nicht Wissenschaftler genug, um dem Experiment die zeitliche Ausdehnung zu geben, die es brauchte? In einem Gespräch, das der in Gießen lehrende Literaturwissenschaftler Carsten Gansel 2002 mit Hermann Kant führte, sagt dieser abschließend auf die Frage nach dem Pro und Contra für die Zeit nach 1989: "... ich bedaure zutiefst, dass sich dieser Entwurf auf eine sozialistische Zukunft hin nicht so lange hat halten können, um wirklich realisiert zu werden. 40 Jahre ist nicht allzu viel Zeit dazu. Ich bedaure es vor allem deswegen, weil damit künftige Versuche lange als nicht realisierbar diskreditiert sein werden. Das alles bedaure ich und werde den Teufel tun, mich irgendwie beglückt zu zeigen, weil ich nun den Kapitalismus habe, dem ich bereits einmal entronnen war." Gansel, selbst im Osten sozialisiert, lässt diese Bemerkung "als eine Art Resümee" stehen, denn sie ist ja wirklich ein bemerkenswertes Statement, das erneut darauf aufmerksam macht, dass niemand so recht weiß, was für Veranstaltungen nötig sind, um aus dem bislang doch eher unleidlichen Menschenwesen in politicis ein einigermaßen erträgliches zu machen.

In dem dicken Schmöker, den der Verbrecher Verlag jetzt herausgebracht hat, befinden sich 38 Interviews Carsten Gansels mit Hunderten Fragen an Schriftsteller (vor allem Männer), die aus drei Generationen stammen und entweder – wie Hermann Kant oder Christa Wolf – vor allem der DDR-Literatur zuzuordnen oder größtenteils mit der alten BRD verbunden sind wie Günter Grass oder Peter Härtling. Das lebhafteste und lebendigste Gespräch scheint mir das mit Marcel Reich-Ranicki zu sein (geführt am 13.5.1996), das mit Abstand großartigste das, was Gansel mit dem 1927 in Berlin geborenen Autor Giwi Margwelaschwili 1991 führte, in dem der in Tiflis lebende Autor zeigt, wie genau mit einer eigens entwickelten Begrifflichkeit sowohl Binnen- als auch Außerliterarisches gleichermaßen sich beschreiben lassen. Hier erscheint der Formalismus auf hohem Niveau und elegant aufgehoben in einer Dauerbelebung des Lebens- und Schreibprozesses. Durchaus in romantischer Ironie schließt der Interviewband mit einem Gespräch über Gespräche. Kommen wir da je wieder raus?

 

Dieter Wenk (2-16)

 

Carsten Gansel, Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989-2014, hrsg. und mit einer Einleitung von Norman Ächtler, Berlin 2015 (Verbrecher Verlag), 771 Seiten, 26 €

 

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