8. Januar 2016

Kabale und Liebe in Auschwitz

 

Wie beginnt man ein Buch über einen Zeitabschnitt, der die Stimme stocken lässt, für dessen Beschreibung keine Sprache abgründig genug erscheint und über den bereits Adorno geschrieben hatte, dass jede Kunst, die diesem schwarzen Loch zu nahe käme, riskiere, selbst barbarisch zu werden. Martin Amis umgeht dieses Dilemma elegant, indem er einem anderen den Vortritt lässt und seinen Ausschwitz-Roman „Interessengebiet“ mit einem sich über eine ganze Seite erstreckenden Shakespeare-Zitat eröffnet: „Und den Kessel dreht euch rund! Giftgekrös in seinen Schlund! ... Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, dass wollt ich nun im Waten stillstehn, Rückkehr so schwierig war als durchzugehn.“ – So tönt es düster aus den Niederungen des Macbeth. Und Amis nimmt Adornos Warnung sehr wörtlich, nähert sich dem Abgrund Hitler nur sehr vorsichtig und erwähnt dessen Namen erst im Nachwort des Romans. In diesem Nachwort zeigt sich auch, wie todernst es dem Schriftsteller mit seinem Thema ist und wie schwer er sich damit getan hat, das Unvorstellbare verstehen zu wollen. Er bezieht sich dabei auf ganze Bibliotheken geschichtswissenschaftlicher und biografischer Literatur, für deren Lektüre es wohl ein ganzes Leben gebraucht haben muss, dennoch, man ist geneigt, Amis zu glauben, dass er sie wirklich alle gelesen hat. Doch um historische Realität geht es in „Interessengebiet“ nicht, oder zumindest nur am Rande.

 

„Interessengebiet“, das ist das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und gleichzeitig der Ort, an dem Martin Amis seine Geschichte über den Nationalsozialismus und seine Schergen angesiedelt hat. Es ist nach „Pfeil der Zeit“ („Time’s Arrow: Or the Nature of the Offense“, 1991), in dem das Leben eines KZ-Arztes in umgekehrter Chronologie zurückgespult wird, bereits sein zweiter Roman zu diesem Thema. Amis’ Obsession geht also weit zurück! Im Zentrum seines aktuellen Buches, also mitten im Interessengebiet, stehen der liebeshungrige Ingenieur und SS-Obersturmführer Golo Thomsen, der zahlenvernarrte, alkoholkranke und beständig zwischen Erschießungskommando und Erbrechen torkelnde Lagerkommandant Paul Doll, dessen aufreizende Ehefrau Hannah sowie der jüdische Häftling Szmul. Dieser, wie er von sich selbst sagt, traurigste Mann der Weltgeschichte, arbeitet in dem KZ als Sonderkommandoführer und hilft den Mördern an der Rampe zur Selektion für die Gaskammer. Auch wenn ihm diese Position sein eigenes Überleben rettet, fragt man sich, ob seine eigentliche Leistung nicht gerade darin besteht, nicht wegen, sondern trotz dieser grauenvollsten und menschenverzehrendsten aller Tätigkeit am Leben zu bleiben ... Ein weiterer, heimlicher Protagonist des Romans ist Thomsens Onkel und Privatsekretär Hitlers, Martin Bormann, dessen Frau gerade damit beschäftigt ist, dem Führer ein zehntes Kind für den Sieg zu gebären.

 

Auch wenn diese Konstellation eine Geschichte in Aussicht stellt, die an Schrecken kaum zu überbieten sein sollte, entspinnt Amis daraus sehr kunstvoll und sprachgewandt eine fast unterhaltsame Liebesgeschichte, in der Lagerintrigen und Kabalen mit den kalten Fakten des Konzentrationslagers und dessen ökonomischer Tötungsmaschinerie zusammen erzählt werden. Hierbei kollidiert der industrielle und auf wirtschaftliche Effizienz hin getrimmte Massenmord mit dem Alltagsleben und privaten Episoden aus dem kaputten Eheleben der Dolls, Tischgesellschaften und Small Talk. Amis beschreibt dieses „Interessengebiet“ als einen Ort vieler verschiedener und umeinander kreisender Interessen. Manche davon, wie der bürgerliche und alkoholvergiftete Rationalisierungswahn des Kommandanten, fügen sich in die bürokratische Mörderlogik des Nationalsozialismus ein, andere wie der Vorsatz Szmuls, bei jedem Selektionszug mindestens einen Menschen vor der Gaskammer zu retten, sind der verzweifelte Wille, in dieser Hölle Mensch zu bleiben. Dazwischen steht die in vielerlei Hinsicht unmögliche Liebe – falls es diese an solch einem Ort überhaupt geben kann – von Golo Thomsen und Hannah Doll, die Amis satirisch und mit britisch schwarzem Humor verätzt. Vieles davon in dieser Geschichte gerät dabei zu Kitsch, aber gerade als Kitsch wirkt es umso erschreckender, sodass es einem an einigen Stellen fast den Atem verschlägt.

 

Am Ende bleibt allerdings die Frage – und es ist eine echte Frage, denn ich kenne ihre Antwort nicht –, warum Amis diesen Roman geschrieben hat. Beim Lesen hat man trotz all der grauenvollen Details, die gerade durch die unterkühlte Beiläufigkeit ihrer Erwähnung noch unfassbarer erscheinen, nicht wirklich das Gefühl, diesen Ort besser verstehen zu können. Fast scheint es, als ob Amis mit diesem Gefühl der Unbegreiflichkeit, das mittlerweile zu einer Meistererzählung des kollektiven Erinnerns geworden ist, spielt. Unablässig legt er immer neue – und bereits vielfach abgenutzte – Deutungsmuster und Schablonen der Beschreibung übereinander: den philisterhaften Bürokratismus, die moralische Verdorbenheit, den pathologischen Alkoholismus, die Banalität des Bösen, die sexuelle Perversion der Impotenz und Überpotenz, die Minderwertigkeitskomplexe Hitlers etc. ... bis am Ende nur noch ein unscharfes und vollständig überzeichnetes Bild übrig bleibt. Der Vorteil dieses verschwommenen Bildes ist, dass es einem beim Hinsehen nicht mehr droht, die Augen zu verätzen, sein Nachteil besteht darin, uns glauben zu machen, alles verstanden zu haben. Amis ist sich dieses Dilemmas sehr bewusst und sein Roman ist deshalb vielleicht viel eher eine Geschichte über unseren Umgang mit der Erinnerung an Auschwitz als über den Ort selbst. An einer Stelle lässt er seinen tragischen Helden Szmul sagen, dass das KZ ein Spiegel sei, der jedem Menschen dort, Täter wie Opfer, seine Seele zeige: „Er zeigte deine Seele – er zeigte dich so, wie du wirklich warst.“ Die in ihm projizierten Bilder sind unvorstellbar schrecklich und unvorstellbar real: „Man kann sich nicht davon abwenden“ (S. 50). Und eben diese unüberwindbare Kluft zwischen der wirklichen Erfahrung des Spiegels und unseren bis zur Karikatur überbelichteten Schablonen scheint ein Thema dieses Buchs zu sein.

 

„Interessengebiet“ ist seit seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung viel diskutiert worden. Alle großen Zeitungen, Literaturmagazine und -sendungen haben sich daran abgearbeitet und heftig über die Grenzen der Kunst und des guten Geschmacks gestritten. Gerüchten zufolge soll sich der Hanser Verlag geweigert haben, das Buch zu verlegen, weshalb es nun bei Kein & Aber erschienen ist. Martin Amis dürften diese Reiberein um seinen Roman, der damit selbst zu einer Kampfzone konkurrierender Interessen geworden ist, durchaus nicht unrecht gekommen sein. Auch wenn der mediale Aufschrei seit Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ (2006) auf ein vielfach geübtes und beinahe ritualisiertes Protokoll der Empörung zurückgreifen kann.

 

Patrick Kilian

 

Martin Amis: Interessengebiet, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Zürich/Berlin: Kein & Aber 2015, 416 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-0369-5724-1 (Original-Titel: The Zone of Interest, London: Jonathan Cape 2014). 

 

 

 

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