19. Januar 2004

Italien suchte den Tugendstar

 

Auch heute noch, 240 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses nur etwas mehr als hundertseitigen Traktats, meint man etwas zu verspüren von der Aufbruchsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Voltaire u.a. auf theologischem, Rousseau u.a. auf pädagogischem und Beccaria auf juristischem Terrain. Ganz abgesehen von den europäischen Stürmern und Drängern. Was bei Beccaria, trotz seines bewusst administrativ-ausschließenden Stils, auffällt: eine Einfachheit der gesamten Anlage. Wie Hobbes lässt er das erste Stadium der Menschheit in einem Krieg aller gegen alle beginnen. Die Konsequenz daraus: ein Gesellschaftsvertrag, in dem alle einzelnen auf einen Teil ihrer Freiheit verzichten, um dafür die Sicherheit einzutauschen, die für die Entfaltung der Freiheit unumgänglich ist.

Der Souverän ist bei Beccaria kein Ungeheuer wie der Leviathan bei Hobbes, sondern lediglich der Verwalter der Endsumme der Freiheitsquanten, von denen sich die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft getrennt haben, um eben eine funktionierendes Gemeinschaftsgebilde aufzubauen. Alles Weitere ergibt sich aus diesem fiktiven Vermächtnis an den Souverän. Verbrechen nennt der Autor (1738-1794) die Handlungen, die Einzelne unternehmen, um diese Beschneidung wie auch immer rückgängig zu machen, um sich so auf Kosten anderer zu bereichern oder sogar durch Majestätsverbrechen an den Fundamenten des Staates zu rütteln. Strafen sind einzig dazu da, jedem Mitglied der Gesellschaft vor Augen zu führen, dass jede Aktion gegen die Gesetze Sanktionen nach sich zieht, weil das die einzige Möglichkeit darstellt, den Staat funktionstüchtig zu erhalten. Die Schwere der Strafe richtet sich nach der Schwere des Vergehens, Mord wird härter bestraft als Diebstahl.

Das eigentlich Revolutionäre bei Beccaria sind seine Ausführungen zu Folter und Todesstrafe, die er beide entschieden und modern argumentierend ablehnt. Ein Verdächtiger gilt so lange als unschuldig, als er nicht eines Vergehens überführt ist, wozu keinerlei Mittel eingesetzt werden dürfen, die etwas aus dem Verdächtigen herauspressen, was allein aus der Angst vor richterlich angeordneter Gewalt – sprich Folter – hat erwirkt werden können. Was die Todesstrafe angeht, so hat sie noch nie Verbrechen verhindern können. Und was die Grausamkeit der Strafe angeht, so glaubt Beccaria die größere Abschreckung vor dem Verbrechen eher in einer Strafe zu sehen, die dem potenziellen Täter eine lebenslange Freiheitsstrafe vor Augen führt, aus der auch keine Begnadigung herausführt. Ein paar Jahrzehnte später bestätigt noch Georg Büchner diese Einschätzung des umgekehrten Härtegrades, als er Freunden mitteilt, er würde sich lieber umbringen als in einem hessischen Gefängnis dahinvegetieren.

Sehr spannend immer noch zu lesen, was Beccaria über die Ehre schreibt als ein nicht vom Staat tangiertes und auch gar nicht zu berührendes Feld, auf dem sich Ansprüche formulieren, die die jeweils Beteiligten wieder in den Naturzustand zurückversetzen, für den gilt, dass bei zweien immer einer zuviel ist. Keine Frage, dass direkt im Anschluss an die Ehre das Thema Duelle verhandelt wird, dessen Aberwitz nirgends so schön gezeigt worden ist wie in Ridley Scotts Film „Die Duellisten“ (nach Joseph Conrad). Was die Sprache der Gesetze angeht, so verlangt der Autor von ihnen eine Simplizität und Eindeutigkeit, die keinen Platz für Interpretationen und Auslegungen lässt. Nur so könne eine Reichsunmittelbarkeit zwischen Gesetz und Angeklagtem gewährleistet werden, der Richter spricht nur Recht, er ist bloß vollziehendes Organ. Ein für das 18. Jahrhundert keineswegs abwegiger, sondern geradezu typischer Gedanke: eine Art Preisverleihung für tugendhaftes Verhalten. Europa sucht den Tugendstar. Aber mit den nötigen Verschiebungen des gesellschaftlichen Lustkonsenses ist es doch genau das, was heute passiert. Und das ist nicht wenig.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, Frankfurt und Leipzig 1998</typohead>