Entspannungsstress
Liebe unbekannte Leserin, lieber unbekannter Leser,
Nichtstun auf Dauer ist auch Scheiße bzw. Stress, der am Ende vielleicht dazu führt, dass man das Falsche macht, vielleicht aber auch das Richtige.
Vielleicht ist alle große Kunst ein Aufstand gegen die Liegenschaft des Geistes. Eine Sehnsucht, dem Körper zu entkommen, dem Leben, das auch sterben kann. Und sterben will keiner, dann lieber herumliegen. Herumliegen ist aber, wie den Tod üben. Will auf Dauer auch keiner.
Wie Kunst aus Langeweile entsteht?
Stellen Sie sich van Gogh vor, wie er in einem Feld herumsitzt und denkt, Mist, nur herumsitzen ist auch nix, da mal ich doch lieber was, das lenkt mich von meinen trüben Gedanken ab. Alles besser als Hals- oder Ohrabschneiden.
Ob es so war? Vermutlich nicht, aber ich - der ich gerade herumsitze - habe gedacht, ich denke mal über van Gogh nach, wie es gar nicht stimmt, aber stimmungsvoll für mich ist, wie es tödlich für meine Langeweile ist, die sich nach etwas sehnt, und wenn es nur eine erfundene Unsinnsgeschichte ist, die rein zufällig so stimmen könnte, so dachte sie, meine Langeweile, die sich nach einer Füllung sehnte.
Erfindung ist Füllung des Nichts. Und kann somit erfüllend sein.
Die Leute wollen gar nicht wissen, dass die Kunst aus der Langeweile entsteht, das läuft dem Geniekult entgegen, das hat nichts mit den Bildern zu tun, die sie vom Genie im Kopf haben wollen.
Kunst als Flucht aus der Langeweile, als Vehikel des Geistes, um sich aus den Stollen des Nichts an die Oberfläche der Welt zu karren. Vielleicht auch nur, um keinen vor lauter Langeweile totzuschlagen.
Kunst als Flucht vor dem noch unausgeführten Verbrechen.
Wer will schon wissen, was stimmt?
Goethe, werden sie sagen, dem war doch nicht langweilig, der war tätig, der kam vor lauter Politik kaum herum. Schon recht. Es gibt ihn, den tätigen Menschen, der aber - tut er mal mix - in ein scheinbar noch tieferes Loch fällt. Es ist nicht wirklich tiefer, aber es kommt ihm tiefer vor, weil er es nicht gewohnt ist. Denn auch die Langeweile will geübt sein, die will gekonnt werden, die will von einem reifen Talent mit einem Hang zum Nichtstun unausgefüllt werden.
Zur wahren Langeweile sind nur die Größten unter uns bestimmt. Buddhisten können auch ein Lied davon singen.
Manchmal sitze ich zu Hause herum und mache gar nichts, was auf Dauer langweilig werden kann, weshalb man gerne auch mal etwas machen will, was aber der Forderung ans Selbst zuwiderläuft, nichts zu tun, denn man hat ja mal nichts tun wollen, um sich zu entspannen.
Das ist dann alles ein Riesendurcheinander, so ein Entspannungsstressdurcheinander.
Der Entspannungsstress, über den ist ja noch viel zu wenig geschrieben und geforscht worden, das wäre schon mal wichtig, dass sich ein Forschungsteam in eine Wohnung bei Chips und TV zurückzieht, um gar nichts zu tun. Um sich der Hölle des Selbst auszusetzen, denn die Hölle sind nie die anderen, sondern die Hölle, das ist man selbst.
Eine ganze Industrie lebt vom Entspannungsstress, davon, dass man den Körper, der sich entspannen will, unterhält, dass man ihn, der entspannen will, in Spannung versetzt, damit er sich nicht selbst zum Feind wird.
Da wird gesurft und getanzt, bis man vergisst, dass man zum Nichtstun hier ist.
Surfen ist dann quasi das tätige Nichtstun.
Und beim Büfett isst man nicht, man frisst, wenn möglich, bis man kaum noch gehen kann, denn deshalb ist man doch hier.
Essen als Kultur des gelebten Nichtstuns, als Vorbereitung darauf, ein Stein zu werden, der am Grund des Lebens herumliegt.
Was tun, wenn das Nichtstun zum Stress für Körper und Seele wird?
Nur herumliegen, das kann kein Körper auf Dauer aushalten, da tut einem nach einer Weile der Rücken weh, die Füße werden unruhig. Alles an einem wehrt sich nach einer Weile gegen die Ruhe, die wie eine Bleidecke auf einem zum Liegen kommt. Also steht man auf und läuft herum und denkt, jetzt laufe ich herum, wo ich doch herumliegen wollte und sollte.
Der Entspannungsstress treibt einen um.
Dem Geist ergeht es ähnlich wie dem Körper. Er ist nicht dazu gemacht, nur herumzuliegen, wobei man denkt, vielleicht bei manchen schon, spätestens wenn man die Berichte über Pegida sieht und liest, wobei das Unsinn ist, weil die sich geistig schon regen bzw. aufregen, eben über alles, wovon sie keine Ahnung haben, z. B. über Asylanten, die ihnen noch gar nichts weggenommen haben, aber vielleicht wegnehmen könnten, was den Pegidadisten fürchterlich aufregt, vermutlich weil seine Fantasie ein Amokläufer ist, der herumläuft und auf alles schießt, was sich ihm in den Weg stellt.
Ein Geist, der herumliegt, kommt auf dumme Gedanken. Der randaliert, spuckt und spukt herum und beschuldigt andere, einfach so, weil ihn das Herumliegen so anödet, dass er was tun muss, egal wie dumm es auch ist. Ein solcher Geist kann gefährlich werden.
Ich schweife ab. Das machen Menschen, die schreiben, weil es ihnen langweilig ist, die hier- und dorthin denken, die flanierend denken, allein, weil sie sich ablenken wollen.
(Denn dies alles hier entsteht aus Langeweile. Und vielleicht lesen Sie es auch aus Langeweile.)
Zurück: Es ging in meinem Brief ja nicht um Pegida, sondern darum, dass der Mensch nicht nur zum Herumliegen bzw. Herumsitzen gemacht ist, wobei das Herumsitzen (siehe deutsche Ämter) schon besser funktioniert. Alles Unglück kommt eben davon, dass der Mensch nicht allein in einem Zimmer bleiben kann (siehe Blaise Pascal). Das müssten sie mal in den Ämtern lesen, das alles Unglück, das sie ersinnen, bereist von Pascal philosophisch erfasst wurde. Und weil die Dienstellenleiter das wissen, sitzen die meisten auch nicht allein. (Oder?)
Aber was machen, wenn man, wie in meinem Fall, nicht raus will? Dann hängt man in der Klemme zwischen nicht liegen und nicht raus wollen. Das ist fatal, weil man nun im Halbaufstehen lebt.
Halb liegend, halb stehend.
In diesem Spannungsverhältnis entsteht aber eben meine Kunst, die ich als halbaufgerichtet bzw. halbaufrichtig bezeichnen würde. So schreibe ich halbaufrichtig Geschichten und führe halbaufrichtig ein Leben, aber nicht alleine, sondern mit meiner Frau Annette, die sich ganz aufgerichtet bzw. aufrichtig um mich halbaufrichtigen Halbaufgerichteten kümmert, indem sie dafür sorgt, dass ich in der Stellung existieren kann, die ich mir zum Los gemacht habe. Denn ein Los, das macht man sich selbst, wenn man sich keins leisten kann.
Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen, ob ich wirklich so halbaufrichtig zu Hause herumstehe, so unfertig, als ob ich in die Hose gemacht hätte, was ich verneinen muss. Das war mehr allegorisch, also halbaufrichtig gemeint.
In diesem Sinne verbleibe ich, der diesen Text aus einer gewissen Langeweile heraus formulierte, der er sich nun wieder hingeben wird, bis sie ihn vor sich hertreibt, wie ein Bauer seine Kuh auf die Weide,
Ihr Guido Rohm