Der Rest ist Schweigen
Free the ravens from the tower/
We've yet to have our finest hour
(The Godfathers)
Ein möglicher Schlüssel findet sich bei Michael Hampe: Was nötigt uns eigentlich, Intelligibilität als etwas dermaßen Einzigartiges und überwältigend Besonderes aufzufassen, dass wir es nur durch jenen Sprung in der Geschichte der Schöpfung erklären können? Hampe schreibt in diesem Sinn: „Die Konstellationen, in denen Bewusstsein und Reflexivität erstaunlich und erklärungsbedürftig werden, sind in der Regel solche, die lebensweltliche Selbstverständlichkeiten zurückgestellt haben. In ihnen wird [...] das Gegenstandsverständnis bestimmter experimenteller Naturwissenschaften universalisiert.“ Und: „Menschliche Subjektivität wird zu einem Mirakel.“
Nach wissenschaftlichen Lehren und ihren technologischen und wirtschaftlichen Anwendungen richten heute bekanntlich ein großer Teil der Menschen ihr Leben ein. Für Hampe gibt es dagegen nur eine Lebensform, in der die menschliche Subjektivität zu echter Wahrhaftigkeit findet, und die sei kaum noch vertreten: ein Sokratisches Leben. Was der Züricher Philosoph darunter verstehen möchte, beansprucht keine historische Fundierung: „Wenn ich von ,Sokratischem Philosophieren‘ rede, meine ich zunächst einmal genau das, was hier über es gesagt wird, nicht mehr.“ Dabei geht es vor allem um Seele, das einzelne menschliche Leben und seine Beweggründe, um Wahrhaftigkeit, also vornehmlich um eine bestimmte Haltung zur Welt, nicht um die Frage, welche besonderen Lehren damit verbunden sind.
„Wenn wir die Fähigkeit, sich von den eigenen Illusionen zu befreien und illusionslos nachdenkend zu leben, ,Wahrhaftigkeit‘ nennen, dann besteht die Weisheit des Sokrates und sein vorbildliches Leben in seiner Wahrhaftigkeit und nicht darin, dass er irgendwelche theoretischen oder existentiellen Wahrheiten entdeckt oder verbreitet hat.“
Ohne dass wir uns bereits eine Meinung darüber bilden müssten, ob der Natur tatsächlich der von Nagel konstatierte Spirit innewohnt oder ob er eine menschliche Orientierungsgabe ist — es sind gerade die oft aus unseren Meinungen und Einstellungen resultierenden apodiktischen Urteile, die Hampe für eine vergeudete Energie der Philosophen hält. Ihr Vorbild ist die Behauptungskultur der Naturwissenschaften, und wir hätten uns angewöhnt, nach deren Muster auch Philosophie zu betreiben. Die Schule des Sokrates sei das genaue Gegenteil davon: Offener Gedankenaustausch, narrative Darstellung, Behauptung und Gegenbehauptung zur gemeinschaftlichen Erkundung der Welt — als ethisches Programm des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Eine solche philosophische Praxis gebe es nicht mehr. „Wenn die Philosophiegeschichte sich nicht mehr als Geschichte der „guten“ und „schlechten“ Doktrinen begreift, nicht bloß als Geschichte eines langen Streits um das richtige Behauptungssystem, sondern auch als Nachvollzug des Wechsels von Varianten menschlicher Lebenserfahrungen und Grundannahmen, könnte sie interessanter werden“, schreibt Hampe.
Denn wir bewegen uns ohnehin in Behauptungssystemen und verharren in ihnen, um uns sicherer zu fühlen, Furcht vor dem Fremden zu regulieren und unsere Gruppenzugehörigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. „Im Alltag dient die Äußerung einer geltenden Behauptung meist weniger der Information einer anderen Person als der Vergewisserung, dass man mit ihr eine Gemeinschaft der so und so Sprechenden und Meinenden bildet.“
„Du meinst auch, dass wir ein Produkt der Evolution sind und nicht von Gott geschaffen wurden“; in dieser oder ähnlicher Form finden laut Michael Hampe unsere üblichen Verständigungsgesten statt, woran ja zugleich deutlich werden kann, wie belanglos schließlich die eine wie die andere unbewiesene Behauptung bleiben muss, sofern sie nur das Hintergrundrauschen unseres kulturellen Wissens bilden.
Ähnlich wie vor ihm Adorno plädiert Hampe für ungeteilte Erfahrung in der Hoffnung, dass sich dadurch andere Möglichkeiten eröffnen als die des „Behauptens, Herstellens, Erwerbens“. So kritisiert er auch Robert Brandom, dessen Philosophie das Weltganze aus Begründungszusammenhängen erstehen lässt, für die damit einhergehende Kultur des „Schließens“. Menschliche Lebensformen seien nicht inferentiell organisiert. Auf das Sprechen in Allgemeinbegriffen, Ressourceneinstellung, Konkurrenzsituation, Beschleunigung zielt seine Kritik, Sprache sei ein Herrschaftsinstrument, der Preis dafür ein Verlust der Aufmerksamkeit auf den „unwiederholbaren Einzelcharakter“ von allem, was uns begegnet.
Von der außergewöhnlich gelehrten und facettenreichen Darstellung fasziniert, mag Hampes Leser kapitelweise den sich aufdrängenden Einwand zurückstellen, dass diese Darstellung doch selbst vom Behaupten und Herstellen und letztlich Erwerben durchdrungen ist. Wie lässt sich dieser Selbstwiderspruch erklären? Hampe verschenkt gewissermaßen Raum und Zeit an ein als falsch erkanntes Verfahren. Handelt es sich um ein notwendiges Dilemma bei einem Philosophiebuch, dessen Aufbau und Wissensschatz auch akademischen Ansprüchen genügen können? Inhalt und Durchführung machen so das Paradox von Hampes Vorhaben selber anschaulich, wenn das auch (diesmal) nicht seine Absicht gewesen sein mag.
Hampes Feier der subjektiven Kreativität mündet in ein Plädoyer für das Schweigen. „Das stellt letztendlich dann die Gewohnheit in Frage, überhaupt mit Allgemeinbegriffen auf die Wirklichkeit zu reagieren. Es entsteht die positive Utopie einer auch schweigenden Existenz als ein philosophisches Leben.“ Ist also zu befürchten, dass er hier sein „letztes Wort“ abliefert und fortan schweigt? Wäre es nicht folgerichtiger, die Konkretion der subjektiven Beschreibungen immer weiterzutreiben?
Wenn sich aus Hampes Haltung selbst irgendeine Lehre der Philosophie ableiten ließe, könnte sie lauten: Traue dich, deine eigene Erfahrung mitzuteilen. Aber eine Kritik doktrinärer Philosophie und behauptender Rede kann keine neue Doktrin aufstellen wollen. Sie muss „naturgemäß anstreben, selbst ,behauptungsschwach‘ zu bleiben.“
Und so beschreibt Hampe das, was Sprache bedeutet, in einem topografischen und überaus bukolischen Szenario: „Die Lebensformen sprechender Wesen [...] gleichen eher Landschaften. Es gibt in ihnen bestimmte begriffliche Verbindungen, so wie es in Landschaften mit Bergen und Flüssen, Pässe und Furten gibt, die von einer Region in eine andere führen.“ Das evoziert eine Freiheit und Gelassenheit, die es allein schon wert wäre, ein mehr als 400 Seiten starkes Stück Philosophie drum herum zu schreiben. Sprache sei schließlich kein „Regelsystem, dem wir alle zu folgen haben und an das wir uns anpassen müssen, wenn wir vernünftig sein wollen", schreibt Hampe. „Es ist mir höchst suspekt, wenn sich Philosophen als Sachwalter der natürlichen, göttlichen, weltgeistlichen oder diskursiven Vernunft aufschwingen und als Hohepriester der Rationalität anderen glauben vorschreiben zu können, an was sie sich als partikulare Subjekte anzupassen haben, welche Bedeutungen von Begriffen sie etwa zu akzeptieren haben, wenn sie vernünftig sein wollen.“ Diese letzten Bemerkungen sind eine Erinnerung daran, wie Neurowissenschaftler und Philosophen um die vermeintlich richtige, sinnvolle und zulässige Art streiten, über Fähigkeiten des Gehirns zu sprechen, und beweist seinen Sinn für die Offenheit von Diskursen auch auf diesem Gebiet. „Man kann nicht philosophisch dekretieren, wie sich Sprache zu entwickeln hat, sondern muss das (freilich nicht kampflos) dem Sprachgebrauch künftiger Generationen überlassen.“
Auch deren Sprecher werden ihrer Welt vermutlich – bei allem Fortschritt der objektivierenden Wissenschaften – in der ersten Person begegnen wollen.
Schluss mit Rorty
Im Register von Thomas Nagels „Geist und Kosmos“ taucht der Name Rorty nicht auf, aber die alte Kontroverse der beiden Denker konkretisiert sich mit „Geist und Kosmos“ weiter. Es geht um Realität und Konstruktivismus, um Kohärenz- oder Konsistenztheorien der Wahrheit. Rorty merkte mal in einer Fußnote an: „Ich habe von Nagels Beiträgen zur Philosophie des Mentalen sehr viel gelernt, obgleich ich nahezu in jedem Punkt entschieden anderer Meinung bin als er.“ Und Nagel gab zurück: Rortys „Anschauungen wirken einleuchtend, wenn man sie nicht sonderlich genau überprüft — was erklären mag, dass sie außerhalb der Philosophie mehr Anklang finden als innerhalb.“
Darauf kann Rorty heute leider nicht mehr antworten. Doch glücklicherweise ist die Philosophie Geist in einem überpersönlichen Sinn. Michael Hampe gelingt es, gelassen auf das Mysterium des intelligiblen Lebens zu reagieren, ohne dessen Faszination und Würde zu schmälern. Richard Rorty spielt für ihn dabei eine bedeutende Rolle.
Markus Gabriel identifiziert den Amerikaner dagegen mit einer postmodernen Beliebigkeit, die der Neue Realismus philosophiegeschichtlich überwinden möchte. Sein eigener Pluralismus der Sinnfelder kommt aber zu schwerelos daher; von keiner Machtfrage getrübt. Das weckt den Gedanken, auch die Postmoderne könnte ein „unvollendetes Projekt“ (Habermas) sein.
Richard Rorty selbst übrigens zeigte keine Furcht vor dem Szientismus. Er notierte: „Aber die Gefahren [...] entstammen nicht der Wissenschaft oder der naturalistischen Philosophie, sondern dem Hunger und der Geheimpolizei.“
Ralf Schulte